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 Pilot Pirx

Pilot Pirx

Titel: Pilot Pirx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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die Metaphysik – als Brücke, die das Mögliche mit dem Unmöglichen verbindet. Und die Wissenschaft? Sie ist vor allen Dingen Verzicht. Gewöhnlich werden ihre Errungenschaften hervorgehoben, doch die stellen sich nur sehr langsam ein, und sie wiegen im übrigen niemals die Riesenverluste auf. Die Wissenschaft ist also die Billigung der Sterblichkeit und der Zufälligkeit des Individuums, das aus dem statistischen Spiel der um den Vorrang der Befruchtung wetteifernden Spermien entsteht. Sie ist die Billigung der Vergänglichkeit, der Unabwendbarkeit, des Fehlens von Vergeltung, höherer Gerechtigkeit, endgültiger Erkenntnis, des endgültigen allseitigen Verstehens – und mithin wäre sie sogar heroisch, wenn sich ihre Schöpfer nicht so oft im unklaren wären, was sie in Wirklichkeit tun! Ich hatte zwischen Furcht und Lächerlichkeit zu wählen, und ich wählte die Lächerlichkeit, weil ich sie mir leisten kann.«
    »Sie hassen diejenigen, die Sie geschaffen haben, nicht wahr?« fragte Pirx leise.
    »Sie irren. Ich bin der Auffassung, daß jede Existenz, selbst die beschränkteste, besser ist als die Nichtexistenz. Sie, meine Konstrukteure, vermochten sicherlich viele Dinge nicht vorauszusehen, aber mehr noch als für meine Intelligenz bin ich ihnen dafür dankbar, daß sie mir das Lustzentrum verweigerten. Es gibt ein solches Zentrum in eurem Gehirn, wußten Sie das?«
    »Ich habe irgendwo darüber gelesen.«
    »Ich besitze es offenbar nicht, und deshalb bin ich auch kein Wesen ohne Beine, das nach nichts anderem verlangt, als laufen zu können ... Nur zu laufen, gerade weil es unmöglich ist.«
    »Alle anderen sind lächerlich, ja?« warf Pirx ein. »Und Sie?«
    »Oh, ich auch. Nur auf andere Art. Jeder von euch hat, sobald er existiert, den Körper, den er hat, und damit basta. Aber ich könnte zum Beispiel wie ein Kühlschrank aussehen.«
    »Ich kann daran nichts Lächerliches finden«, brummte Pirx. Das Gespräch bedrückte ihn mehr und mehr.
    »Es geht um die Konventionalität, um die Zufälligkeit«, wiederholte Burns. »Die Wissenschaft ist der Verzicht auf verschiedene Absoluta: auf den absoluten Raum, die absolute Zeit, die absolute, das heißt ewigwährende Seele, den absoluten, weil gottgeschaffenen Leib. Von solchen Konventionen, die ihr für reale, weil von allem unabhängige Dinge haltet, gibt es noch mehr.«
    »Und was ist noch Konvention? Die Prinzipien der Ethik? Die Liebe? Die Freundschaft?«
    »Gefühle sind niemals konventionell, obwohl sie die Folge von vereinbarten konventionellen Vorbedingungen sein können. Aber ich rede wirklich nur deshalb so über euch, weil es mir in dieser Gegenüberstellung leichter fällt zu erklären, wer ich selbst bin. Die Ethik ist ganz sicher konventionell, zumindest für mich. Ich brauche nicht ethisch zu handeln, und dennoch tue ich es.«
    »Interessant. Und warum?«
    »Ich habe keinen sogenannten Instinkt des Guten. Ich bin nicht fähig, Mitleid sozusagen ›von Natur aus‹ zu empfinden. Aber ich weiß, wann man Barmherzigkeit üben muß, und ich bin imstande, mich einzufühlen. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es nötig ist. Mithin habe ich diese Lücke gewissermaßen durch logische Überlegung geschlossen. Sie können nun sagen, ich hätte eine ›Ersatzethik‹, ich hätte mir eine so täuschend ähnliche Prothese davon angefertigt, daß sie wie ›echt‹ wirkt.«
    »Ich verstehe nicht ganz. Worin liegt also der Unterschied?«
    »Darin, daß ich nach der Logik gültiger Axiome handele und nicht nach dem Instinkt. Ich habe keine derartigen Instinkte. Es ist euer Unglück, daß ihr außer den Instinkten fast nichts habt. Ich weiß nicht, vielleicht hat das früher mal genügt, aber jetzt genügt es ganz bestimmt nicht mehr. Wie sieht denn in der Praxis die sogenannte Nächstenliebe aus? Sie empfinden Mitleid für das Opfer eines Unfalls und helfen ihm. Aber wenn Sie vor zehntausend Opfern gleichzeitig stehen, dann können Sie nicht alle mit Ihrem Mitleid erfassen. Das Mitleid hat ein sehr kleines Fassungsvermögen und ist wenig dehnbar. Es bewährt sich, solange es um einzelne geht, sobald aber die Masse auftaucht, breitet sich Ratlosigkeit aus. Und eben die Entwicklung der Technologie sprengt eure Moral immer gründlicher. Die Aura der ethischen Verantwortung erstreckt sich gerade noch auf die ersten Glieder in der Kette von Ursache und Wirkung. Derjenige, der einen Prozeß auslöst, fühlt sich durchaus nicht mehr für die weiterreichenden

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