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 Pilot Pirx

Pilot Pirx

Titel: Pilot Pirx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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sprechen oder nachdenken konnte. Nur gut, daß kein »Kanalist« und ebensowenig einer der »Antikanalisten« diese ernüchternde Enthüllung erlebt hatte, denn das Rätsel war überhaupt nicht gelöst worden, sondern einfach untergegangen. Es gab doch andere Planeten mit unerforschter Oberfläche: Kanäle waren auf keinem entdeckt worden – nie. Kein Mensch hatte sie gesehen, keiner gezeichnet. Warum? Man wußte es beim besten Willen nicht.
    Sicher bot das Thema genug Stoff für Hypothesen. Es bedurfte einer besonderen Mischung aus Distanz und optischer Vergrößerung, aus objektivem Chaos und subjektivem Drang nach Ordnung, aus den letzten Spuren dessen, was sich in einem trüben Heck auf dem Okular gezeigt hatte, was jenseits der Erkennbarkeitsgrenze geblieben und ihr dennoch für Sekunden fast greifbar nahe gekommen war, oder aus einer noch so winzigen Stütze und aus Phantasievorstellungen, die sich ihrer unbewußt bedienten – damit dieses schon abgeschlossene Kapitel der Astronomie neu geschrieben werden konnte.
    Mit der Forderung an den Planeten, sich für eine der beiden Seiten zu erklären, im Beharren auf den Positionen eines absolut ehrlichen Spiels waren ganze Generationen von Areologen ins Grab gesunken, im festen Glauben, daß die Angelegenheit schließlich vor das entsprechende Tribunal gelangen und gerecht und richtig entschieden würde. Pirx konnte sich vorstellen, daß sich jeder von ihnen auf seine Weise genasführt und betrogen gefühlt hätte, wäre er Zeuge der endgültigen Aufklärung geworden. Dieses Gegeneinander von Fragen und Antworten, diese im Hinblick auf das rätselhafte Objekt absolut falschen Begriffe waren eine bittere, aber wahrhaftige, grausame, aber bereichernde Lektion, die – so kam es ihm plötzlich in den Sinn – im Zusammenhang stand mit dem, wohinein er jetzt geraten war und worüber er sich den Kopf zerbrach.
    Ein Zusammenhang zwischen der alten Areographie und Ariels Havarie? Aber welcher? Und was konnte man mit dieser unklaren, aber dennoch so intensiven Vorstellung anfangen?
    Er wußte es nicht. Aber er war völlig sicher, daß er die Verbindung dieser beiden einander so unähnlichen und voneinander so weit entfernten Dinge weder heute nacht durchschauen noch vergessen konnte. Er mußte erst einmal darüber schlafen. Als er das Licht löschte, dachte er noch, daß Romanis geistiger Horizont bedeutend weiter war, als es auf den ersten Blick schien. Die Bücher waren sein Privateigentum, und man mußte um jedes Kilo persönlichen Besitzes kämpfen, das man auf den Mars mitnehmen wollte. Im Kosmodrom auf der Erde hingen überall Instruktionen, die an die Loyalität der Mitarbeiter appellierten und darauf hinwiesen, daß überflüssiger Ballast auf den Raketen der Sache schade. Es wurde um Einsicht gebeten, und ausgerechnet Romani, immerhin der Chef des Agathodaemons, hatte gegen die Vorschriften und Grundsätze gehandelt, indem er mehrere Dutzend Kilo rundum überflüssiger Bücher hergebracht hatte. Wozu eigentlich? Doch wohl nicht, um sie zu lesen.
    Schon im Dunkeln, schläfrig, lächelte er über den Gedanken, der die Anwesenheit dieser bibliophilen Altertümer unter der Glocke des Marsprojekts rechtfertigte. Ganz gewiß lag hier niemandem an Evangelien und widerlegten Prophezeiungen. Aber es erschien angemessen, mehr noch: notwendig, daß die Gedanken der Menschen, die ihr Bestes dem Rätsel des roten Planeten geopfert hatten, nun schon unter Aussöhnung der erbittertsten Gegner auf dem Mars weilten. Das kam ihnen zu, und wenn Romani das begriffen hatte, war er ein vertrauenswürdiger Mensch.
    Um fünf fuhr er aus bleischwerem Schlaf hoch, sofort hellwach wie nach einer kalten Dusche, und da er noch ein bißchen Zeit hatte – er gönnte sich fünf Minuten, wie schon des öfteren –, dachte er über den Kommandanten des zerschellten Raumschiffs nach. Er wußte nicht, ob Klyne die Rakete mit der dreißig Mann starken Besatzung hätte retten können, ebensowenig wußte er, ob er es versucht hatte. Das war eine Generation von Verstandesmenschen, die sich den zuverlässig-logischen Gefährten, den Computern, unterordneten, denn es wurden immer größere Anforderungen gestellt – wann wurden sie schon einmal kontrolliert? Einfacher war es, sich blind auf sie zu verlassen. Er hingegen brachte dies nicht fertig, und wenn er es hundertmal gewollt hätte. Dieses Mißtrauen steckte ihm einfach in den Knochen. Er schaltete das Radio ein.
    Der Sturm war losgebrochen. Er

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