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 Pilot Pirx

Pilot Pirx

Titel: Pilot Pirx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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Gedanke an Kerntests auf dem Mars erst später auftauchte ... Eine der streitenden Parteien mußte recht haben. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einigte man sich allgemein darauf, daß Schiaparellis geometrische Kanäle nicht existierten, daß aber trotzdem etwas vorhanden sein mußte, was auf Kanäle hindeutete. Eine Sinnestäuschung konnte nicht vorliegen, denn zu viele Menschen hatten von zu vielen Orten auf der Erde aus dieses Etwas beobachtet. Sicherlich waren es keine offenen Gewässer in den Eisflächen und keine niedrigen Wolkenströme in den Tälern; vielleicht waren auch keine Vegetationszonen vorhanden, aber trotzdem ... Dieses Etwas – wer weiß? – war womöglich noch unverständlicher, noch rätselhafter, und es wartete auf die Augen der Menschen, auf die Objektive der Kameras und auf die automatischen Sonden.
    Pirx hatte niemandem gestanden, was ihn nach der Lektüre dieser Werke bewegte, aber Boerst, gerissen und rücksichtslos, wie es sich für einen Klassenprimus gehörte, war hinter sein Geheimnis gekommen und hatte ihn für ein paar Wochen zum Gespött des Kursus gemacht, indem er ihn den »Kanalfan« Pirx taufte, der in der beobachtenden Astronomie die Doktrin »credo, quia non est« einführen wolle. Aber Pirx wußte, daß es keine Kanäle gab und daß, was vielleicht noch schlimmer war, nicht einmal etwas Ähnliches existierte. Wie sollte er es auch nicht wissen, war doch der Mars seit Jahren erobert und hielt er ja selbst areographische Kolloquien ab. Er hatte im Beisein der Assistenten nicht nur genaue fotografische Karten angelegt, sondern war auch bei den praktischen Übungen im Simulator auf dem Boden ebendesselben Agathodaemons gelandet, wo er sich jetzt befand, unter der Sauerstoffglocke des Projekts, vor dem Regal mit den musealen Errungenschaften aus zwei Jahrhunderten der Astronomie. Versteht sich, daß er all das wußte, aber dieses Wissen steckte irgendwo völlig abgesondert in seinem Kopf, es war keiner Verifizierung unterworfen, so als wäre diese ein einziger großer Betrug und als existierte weiterhin ein anderer, unerreichbarer, von einem geometrischen Netz überzogener, geheimnisvoller Mars.
    Während des Fluges auf der Linie Terra-Ares gab es einen Zeitabschnitt, eine Art Zone, von der aus man mit bloßem Auge – und zwar mehrere Stunden lang – tatsächlich das sehen konnte, was Schiaparelli, Lowell und Pickering nur in den seltenen Augenblicken atmosphärischer Ruhe beobachtet hatten. Durch die Bullaugen konnte man verfolgen, wie sich manchmal an einem, manchmal an zwei Tagen Kanäle mit kaum angedeuteten Umrissen im Boden der schmutziggrauen, feindseligen Scheibe bildeten. Später, wenn man dem Globus näher kam, begannen sie zu schwinden, sich aufzulösen; einer nach dem anderen verschwamm im Nichts, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, und die aller scharfen Konturen bare Scheibe des Planeten schien mit ihrer Öde, mit ihrer langweiligen grauen Indifferenz all die Hoffnungen zu verspotten, die sie selbst geweckt hatte. Gewiß, nach weiteren Flugwochen tauchte wirklich etwas Definitives auf, das nicht wieder verschwand, aber das waren dann einfach die schartigen Ränder der größten Krater, die wild übereinandergetürmten verwitterten Felsen, die häßlichen Geröllhalden unter dicken Schichten grauen Staubs, die in nichts jener sauberen Präzision der geometrischen Zeichnung ähnelten. Aus der Nähe betrachtet, bot der Planet dieses Chaos schon gefügig und endgültig dar, unfähig, die Erosionsspuren aus Jahrmilliarden zu vertuschen. Dieses Chaos ließ sich mit jener unvergeßlichen, klaren Zeichnung einfach nicht in Einklang bringen, mit jenem Entwurf von etwas, das so intensiv überzeugt und solche Erregung geweckt hatte, denn es war die Rede gewesen von logischer Ordnung, von einem unverständlichen, aber gegenwärtigen Sinn, den in den Griff zu bekommen es eben ein bißchen mehr Anstrengung brauchte.
    Aber wo war dieser Sinn, und worauf beruhte diese Täuschung? Auf einer Projektion der Netzhaut, ihrer optischen Mechanismen, des Sehzentrums in der Hirnrinde? Niemand unternahm den Versuch, diese Frage zu beantworten, denn das verstaubte Problem teilte das Los aller überholten, vom Fortschritt über Bord geworfenen Hypothesen: Es war auf dem Kehrichthaufen gelandet.
    Da es keine Kanäle gab – nicht einmal etwas Besonderes im Relief des Planeten, was den Eindruck dieser Erscheinung hervorrufen konnte –, gab es auch nichts, worüber man

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