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 Pilot Pirx

Pilot Pirx

Titel: Pilot Pirx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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Generation angehört, Pirx aber, und das wußte er, wurde von den Jüngeren »Automatenfeind«, »Konservatist«, »Mammut« genannt. Etliche seiner Altersgenossen flogen nicht mehr; je nach Fähigkeiten und Möglichkeiten hatten sie umgesattelt – die einen waren Dozenten geworden, die anderen Mitglieder der Kosmischen Kammer, sie hatten einträgliche Posten in Werften und Aufsichtsräten, sie bestellten ihre Gärten. Im allgemeinen bewahrten sie Haltung. Sie spielten die Einsicht ins Unvermeidliche nicht schlecht – Gott allein wußte, was das manchen gekostet hatte. Aber es gab auch Fälle von Verantwortungslosigkeit, motiviert durch Mangel an Einsicht, hilflose Renitenz, Stolz und Zorn, durch das Gefühl unverdient erlittenen Unglücks. Verrückte kannte dieser Beruf nicht; aber einzelne Persönlichkeiten näherten sich gefährlich der Grenze der Psychopathie, wenn sie diese Grenze auch nicht überschritten. Immerhin kam es unter dem wachsenden Druck des Unausweichlichen zu Ausfällen, die zumindest grotesk waren. Ja, er wußte von diesen Schrullen, Verirrungen, abergläubischen Vorstellungen, denen sowohl Fremde als auch solche unterworfen waren, die er seit Jahren kannte und für die er, so schien es, die Hand ins Feuer legen konnte. Süße Ignoranz war kein Privileg in einem Fach, das soviel zuverlässige Kenntnisse erforderte; jeden Tag gingen unwiderruflich einige tausend Neuronen im Hirn zugrunde, und schon vor dem dreißigsten Lebensjahr begann der eigenartige, unmerkliche, aber unaufhaltsame Wettlauf, die Rivalität zwischen dem Nachlassen der von Atrophie untergrabenen Funktion und ihrer Vervollkommnung dank wachsender Erfahrung, und so ergab sich ein instabiles Gleichgewicht, eine in der Tat akrobatische Balance, mit der man leben und fliegen mußte. Und träumen. Wen hatte er in der vergangenen Nacht so oft zu töten versucht? Hatte das nicht eine besondere Bedeutung?
    Als er sich auf das Feldbett legte, das unter seinem Gewicht aufstöhnte, kam ihm der Gedanke, daß er vielleicht nicht einschlafen könnte – bisher hatte er nicht unter Schlaflosigkeit gelitten, aber eines Tages war auch das fällig. Dieser Gedanke beunruhigte ihn seltsamerweise. Er hatte gar keine Angst vor einer schlaflosen Nacht, aber eine Unnachgiebigkeit des Körpers, die auf die Verwundbarkeit von etwas bisher Untrüglichem hindeutete, nahm in diesem Augenblick selbst als Möglichkeit fast die Ausmaße einer Niederlage an. Er wünschte es einfach nicht, gegen seinen Willen mit offenen Augen dazuliegen, und obwohl das dumm war, setzte er sich auf, betrachtete gedankenlos seinen grünen Pyjama und hob den Blick zum Bücherbord. Da er nichts Interessantes erwartet hatte, überraschte ihn die Reihe dickleibiger Bände über dem von Zirkeln zerstochenen Reißbrett. Wohlgeordnet stand dort fast die gesamte Geschichte der Aerologie; die meisten Bücher kannte er, sie befanden sich auch in seiner Bibliothek auf der Erde. Er stand auf und fuhr mit der Hand über die soliden Buchrücken. Da war nicht nur Herschel, der Vater der Astronomie, sondern auch Kepler mit der »ASTRONOMIA NOVA SEU PHYSICA COELESTIS tradita commentariis DE MOTIBUS STELLAE MARTIS« – nach den Forschungen Tycho de Brahes, Ausgabe von 1784. Und weiter Flammarion, Backhuyzen, Kaiser, der große Phantast Schiaparelli, seine Memoria terza, eine vergilbte römische Ausgabe, und dann Arrhenius, Antoniadi, Kuiper, Lowell, Pickering, Saheko, Struve, Vaucouleurs – bis zu Wernher von Braun und seinem Marsprojekt. Und Karten, zusammengerollte Karten mit allen Kanälen – Margaritifer Sinus, Lacus, Solis und das Agathodaemon ...
    Er stand da und brauchte keines dieser Bücher mit den glatten, bretterdicken Einbänden aufzuschlagen. Im Geruch der alten Leinwand, der Heftfäden, der vergilbten Blätter, der etwas Würdevolles und Morsches zugleich an sich hatte, wurden die Stunden lebendig, die über dem Geheimnis verstrichen waren. Zwei Jahrhunderte lang war es erstürmt worden, belagert von einem ganzen Ameisenhaufen aus Hypothesen: Einer nach dem anderen war dahingestorben, ohne die Lösung zu erleben. Antoniadi, der sein Lebtag keine Kanäle gesehen und erst an der Schwelle des Alters die Existenz »gewisser Linien, die an so etwas erinnerten« zugegeben hatte. Graff, der nichts dergleichen wahrgenommen und statt dessen gesagt hatte, es gebräche ihm an der »Imagination« der Kollegen. Die »Kanalisten« dagegen hatten nächtelang beobachtet und gezeichnet, hatten

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