Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
– alle machen Druck. Wir brauchen endlich einen konkreten Ermittlungserfolg, den wir der verunsicherten Bevölkerung präsentieren können.«
»Ja, soll ich denn in den Wald gehen und uns einen Hauptverdächtigen schnitzen?«, provozierte der SOKO-Leiter.
»Ach, Tannenberg, Sie immer mit Ihren albernen Witzen! Die bringen uns absolut nicht weiter. Um 18 Uhr ist Pressekonferenz, und da kann ich mich doch nicht hinsetzen und sagen: Leute, es tut mir leid, wir tappen immer noch völlig im Dunkeln. Ich muss dieser hungrigen Meute doch irgendeinen deftigen Fleischbrocken hinwerfen können, damit sie wenigstens mal für eine gewisse Zeit zufrieden sind. Sonst geben diese verfluchten Pressegeier doch nie Ruhe. Und was meinen Sie, was im Innenministerium dann wieder los ist. Wenn wir nicht bald einen konkreten Fahndungserfolg vorweisen können, ist unser aller Karriere beendet. Dann können Sie den Straßenverkehr regeln und ich verstaube in irgendeinem Justizarchiv.«
Plötzlich drang vom Treppenhaus her tumultartiger Lärm ins Kommissariat.
»Was ist denn da los?«, fragte der Oberstaatsanwalt ungehalten in die Runde der Anwesenden.
Der zunächst undifferenzierte, diffuse Krach kam schnell näher. Irgendjemand öffnete die Abschlusstür, die den Korridor vom Treppenhaus abtrennte. Tannenberg und die anderen begaben sich neugierig auf den Flur. Verwundert sahen sie, wie Förster Kreilinger gemeinsam mit einem kräftigen Waldarbeiter eine Person, über deren Kopf ein Leinensack gestülpt war, ins Kommissariat schleiften; wie den Seeräuber Störtebeker, als man ihn in Hamburg zum Schafott führte.
»Ich hab den Saukerl endlich gefangen! Jetzt steht mir die Belohnung zu«, schrie Kreilinger aufgeregt, riss dem Mann den Kartoffelsack vom Kopf und zog ihm den übergehängten Mantel von den dürren Schultern.
Es war ein erbärmlicher Anblick, der sich den Mitarbeitern der SOKO ›Pilze‹ darbot: Vor ihnen stand, hilflos dem grellen Neonlicht ausgeliefert, ein etwa 60-jähriger, untersetzter, hagerer Mann mit Glatze. Um seinen Bauch herum baumelte ein am Nabel zusammengebundener schwarzer Fahrradschlauch. Ansonsten war er völlig nackt. Seine Hände waren vor dem Körper mit einem Kälberstrick zusammengebunden.
Die beiden Frauen wendeten sich angewidert ab, während Tannenberg sofort Kreilinger den Mantel entriss und ihn dem zitternden Mann wieder um die Schultern legte.
»Kommen Sie mal mit in mein Zimmer! Michael, du machst mit den beiden netten Kopfgeldjägern ein Protokoll«, sagte Tannenberg und führte den total verstörten Mann in sein Büro. Dann knotete er den Strick auseinander und befreite so den völlig eingeschüchterten Mann von seinen Handfesseln.
»Wer sind Sie? Was haben Sie im Wald gemacht?«, schrie Dr. Hollerbach ohne Vorwarnung gleich los.
Aber der Mann zuckte nur kurz ängstlich zusammen, zeigte sonst keine Regung und stierte mit leerem Blick in die Ecke.
»So hat das keinen Wert, Herr Kollege«, mischte sich die Kriminalpsychologin ein. »Sehen Sie denn nicht, dass der Mann unter Schock steht? Aus dem bekommen Sie jetzt überhaupt nichts raus. Ich schlage vor, dass er umgehend in die Psychiatrie überstellt und medizinisch und psychologisch eingehend untersucht wird.«
»Gut. Aber zuerst muss er noch schnell zum Erkennungsdienst. Wir brauchen unbedingt die Fingerabdrücke und die anderen Sachen«, sagte Tannenberg und wählte die Nummer der Kriminaltechnik.
Kurze Zeit später erschienen bereits zwei Beamte, die den Mann abholten.
»Da hat der Herr ein Einsehen mit uns gehabt und uns genau zum richtigen Zeitpunkt einen Hauptverdächtigen geschickt«, freute sich Dr. Hollerbach.
Tannenberg holte tief Luft. »Glauben Sie wirklich, dass dieser arme Spanner oder Exhibitionist irgendetwas mit unserer Mordserie zu tun hat?«
»Mann, das ist doch total egal! Wenn er der Täter ist, dann ist die Sache sowieso erledigt. Und wenn er unschuldig ist, wird er demnächst wieder aus der Untersuchungshaft entlassen.«
»Wie, Untersuchungshaft? Sie können doch nicht allen Ernstes diesen armen Tropf einsperren, ohne konkreten Tatverdacht!«, kritisierte der SOKO-Leiter offen das Vorhaben des Oberstaatsanwalts.
»Und ob ich das kann, Tannenberg! Wenn der Erkennungsdienst seine Daten erfasst hat, begebe ich mich damit sofort zum Ermittlungsrichter und erwirke einen Haftbefehl.«
»Die Sache hat noch einen weiteren Vorteil«, meldete sich die Profilerin zu Wort.
»Welchen denn?«, fragte der altgediente
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