Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
gegenüberstanden.
Tannenberg löste seine Augen vom Schachbrett und fixierte seinen grübelnden Gegner. »Glaubst du, dass der Mörder jetzt nach der zweiten Frau Ruhe gibt, oder glaubst du, dass er weitermacht?«
»Weiß nicht. Seid ihr schon auf irgendein mögliches Tatmotiv gestoßen?«, fragte Dr. Schönthaler, ohne hochzublicken.
»Nein. Es gibt nur einige Sachen, die wir meines Erachtens definitiv ausschließen können: Zufallstaten waren es sicher nicht, dafür ist mir alles viel zu exakt geplant. Affekthandlungen waren es sicher auch nicht, dazu ist alles viel zu rational durchgeführt. Der Täter ist mit einer ausgetüftelten Logistik an die Sache herangegangen. Was bleibt somit übrig? Beziehungstaten? Mit zwei Frauen, bei denen wir bislang keine Querverbindungen erkennen können? Sehr unwahrscheinlich, oder?«
»Stimmt! Was ist mit Sport? Beide sind sehr sportlich gewesen. Vielleicht waren sie im selben Verein?«
»Kann sein. Aber daraus leitet sich wohl kaum zwingend ein Mordmotiv ab.«
»Direkt natürlich nicht! Aber es kann doch sein, dass sich die beiden Frauen und ihr Mörder vom Sport her kannten.«
»Sicher, Rainer, das werden wir in den nächsten Tagen überprüfen müssen. Aber auch wenn dem so wäre und der Täter ein Verhältnis mit einer der beiden gehabt hätte – oder von mir aus auch mit beiden –, aus welchem Grund sollte er denn erst die eine und anschließend auch noch die andere umbringen? Ich seh einfach noch nicht einmal den Ansatz eines nachvollziehbaren Motivs.«
»Ja, ich weiß ja auch nicht!«, seufzte der Gerichtsmediziner.
»Was bleibt also?«
»Es bleibt eigentlich nur noch der Psychopath, oder?«
»Ja, also doch diese tickende Zeitbombe, von der Hollerbach überzeugt ist? Möglicherweise ist das alles aber nur eine geschickt konstruierte Finte, die irgendwas verschleiern soll.«
»Aber was?«
Tannenberg versuchte, sich wieder auf seinen Angriff über den Königsflügel zu konzentrieren.
»Was hast du eigentlich damit gemeint, als du vorhin gesagt hast: Diese merkwürdigen Druckstellen an einigen Rippen?«, schob sich plötzlich ein Erinnerungssplitter in seine schachstrategischen Gedankenspiele.
»Ja, eben diese Druckstellen, die von den unteren Rippenbögen nach oben zur Einstichstelle hinführen, so als ob jemand die Rippen genau abgezählt hat, bevor er den Spieß eingeführt hat.«
Tannenberg blickte seinen Freund entgeistert an. »Das heißt: Der Täter hat genau ausgerechnet, wo er einstechen muss.«
»So würde ich das sehen«, bemerkte Dr. Schönthaler gelassen.
»Und wieso weiß ich davon nichts, Rainer?«
»Keine Ahnung. Ich hab das jedenfalls alles auf Band gesprochen und ein Bote hat’s zu deiner Sekretärin zum Abtippen gebracht.«
»In dem Bericht steht aber nichts dergleichen drin. Das wäre mir sicher aufgefallen. Was bedeutet das?«
»Das kann zum Beispiel ein Hinweis darauf sein, dass der Mörder anatomische Grundkenntnisse besitzt. Es ist nämlich gar nicht so einfach, ein Herz ganz genau in der Mitte zu treffen. Jedenfalls ist es viel schwieriger, als man vielleicht denken mag.«
»Wenn dem so wäre, würde es den potentiellen Täterkreis ja enorm einengen. Wer besitzt denn alles anatomische Grundkenntnisse?«
»Na ja, jeder Krankenpfleger, jeder Masseur, jeder Humanmediziner …«
»Jeder Gerichtsmediziner«, warf Tannenberg reflexartig ein, ohne sich zunächst der Bedeutung seiner Worte bewusst zu sein.
»Richtig, Wolfram: Jeder Gerichtsmediziner – also auch ich! Daraus folgt logischerweise, dass auch ich zum Kreis der Verdächtigen zähle«, stellte der Pathologe scheinbar emotionslos fest. »Weitere Berufsgruppen, die zum erlauchten Kreis der potentiell Tatverdächtigen gehören: Physiotherapeuten, Veterinärmediziner, Humanbiologen, Altenpfleger usw.«
»Und so weiter! Oder es ist wieder eine absichtlich gelegte falsche Spur. Es ist zum Verzweifeln! Rainer, gib mir noch’n großen Belli.«
»Aber gerne«, sagte der Pathologe und goss behutsam den duftenden Zaubertrank in das von Tannenberg bettelnd entgegengestreckte Medizinergeschirr.
»Kollege Schönthaler, wo haben Sie sich denn versteckt?«, rief plötzlich eine hohe Fistelstimme.
»Wer ist denn das?«, fragte Tannenberg seinen Freund verblüfft.
»Ach du dickes Ei. Der Ober-Gerichtsmediziner von Rheinland-Pfalz, sprich geballte LKA-Arroganz. Räum mal schnell den Schnaps und die Schälchen weg. Ich fang ihn draußen ab. Hier hast du’n Fisherman«, sagte Dr.
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