Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
Schönthaler schnell, während er seinem Freund ein kleines, flaches Blechdöschen mit den frischen Atem spendenden Lutschpastillen vor die Nase hielt.
Hektisch griff Tannenberg zu, begab sich umgehend an das neben dem aufgehängten Knochenmann befindliche cremefarbene Handwaschbecken und spülte die beiden Nierenschälchen mit flinken Bewegungen aus.
»Warum sucht denn der berühmte Professor Reichmann, der sagenumwobene Leiter der Mainzer Pathologie, einen seiner ehrfürchtigsten Bewunderer in dessen ach so trister Totenhalle auf? Nennen Sie mir den Grund, großer Meister, Papst und leuchtendes Vorbild aller Leichenschneider?«
»Sagen Sie mal, Schönthaler, sind Sie betrunken. Was soll der Blödsinn? Angesichts dieser perversen Mordserie gefriert mir zur Zeit jeder Anflug von Humor bereits im Ansatz. Aber vielleicht kommt es Ihnen ja ganz gelegen, dass das LKA Ihnen mit sofortiger Wirkung diese mysteriösen Fälle entzieht und das Institut für Rechtsmedizin an der Universität Mainz mit der Untersuchung beauftragt. Wir werden nun beide Leichname bzw. die bereits extrahierten Obduktionsasservate übernehmen und umgehend in die Landeshauptstadt bringen. Dann haben Sie wenigstens Ihre Ruhe. In unserem Institut stehen uns ja auch ganz andere technische Möglichkeiten zur Verfügung.«
»Ja sicher, da haben Sie vollkommen recht. Und vor allem haben Sie dort auch qualifizierteres Personal«, entgegnete Dr. Schönthaler schnippisch, dem Tannenberg sehr wohl anmerkte, mit welch grandioser Selbstbeherrschung er diese entwürdigende Prozedur über sich ergehen ließ.
»Komm, Rainer, da werden wir beide wohl hier nicht mehr gebraucht. Ich hab auch schon ’ne gute Idee, wo wir zwei jetzt hingehen.«
Die vermeintlich gute Idee bestand darin, die nächstgelegene Gartenwirtschaft anzusteuern und sich als Absacker noch ein Weizenbier zu genehmigen. Allerdings war Dr. Schönthalers Stimmung so tief im Keller, dass er sich ziemlich bald verabschiedete und seinen Freund alleine in dem gut besuchten Biergarten zurückließ.
Tannenberg bestellte sich noch einen letzten Schlaftrunk.
Gerade als er sich ein neues Weißbier einschenken wollte, bemerkte er angewidert eine kleine, leicht rötlich schimmernde, fast durchsichtige Mücke, die sich von ihm zunächst völlig unbemerkt auf dem Rand seines Bierglases niedergelassen hatte. Normalerweise hätte er die Bedienung sofort um ein neues Glas gebeten, aber an diesem Abend reagierte er anders als sonst. Vielleicht war es ein Anflug von Sadismus, der ihn zu dieser merkwürdigen Verhaltensänderung veranlasste, vielleicht war es aber auch nur alkoholbedingte Trägheit. Jedenfalls beobachtete er intensiv die Mücke und registrierte dabei schadenfroh, dass dieses kleine Facettenaugenmonster sich mit seinen Flügeln in dem noch am Glasrand klebenden Bierschaum verfangen hatte. Je mehr sich die Fliege abmühte, ihre Fluggeräte von dieser zähklebrigen Masse zu befreien, umso mehr wurde der mickrige Körper von den ihn umgebenden winzigen Flüssigkeitströpfchen und Schaumresten benetzt. Schließlich klappten die dünnen Beinchen nach innen weg und der ermattende Körper sank kraftlos auf den wulstigen Glasrand nieder.
Dadurch fand sich Tannenbergs spontan aufgekeimte Prognose hinsichtlich der Überlebenschance der Mücke bestätigt; und zudem wurde das unnütze, lästige Tierchen seiner gerechten Strafe zugeführt. Schließlich war sie selbst an ihrem Schicksal schuld; es hatte sie ja niemand dazu aufgefordert, auf seinem Weißbierglas zu landen!
Aber während der letzten unkoordinierten Bewegungen, die dieses unnütze Lebewesen vor seinem kurz bevorstehenden Exitus ausführte, brachte das mysteriöse Spiel des Zufalls plötzlich eine unerwartete Wendung in diesen Todeskampf. Denn zufällig fand ein klappriges, schlaffes Fliegenbeinchen während seiner letzten Zuckungen einen trockenen Ankerplatz auf dem gewölbten Glasrand. Dieser gönnerhafte Kuss Fortunas hauchte der kleinen Mücke umgehend neues Leben ein: Mit Hilfe eines enormen Energieschubs hangelte sie sich langsam auf das trockene Plätzchen und versuchte dann sofort, die verklebten Flügel auseinanderzufalten. Aber dieses Vorhaben wollte ihr trotz intensivster Bemühungen nicht gelingen, und nach mehreren weiteren Anläufen schien die benässte Fliege abermals zu resignieren, verharrte mehrere Sekunden regungslos auf ihrer Rettungsinsel, torkelte leicht, bis schließlich die zarten Beinchen abermals einknickten. Aber bevor
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