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Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall

Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall

Titel: Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Franzinger
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nicht mal weißt, wie sie aussieht. Du brauchst jetzt dringend Entspannung!«, sagte Dr. Schönthaler, griff nach einer durchsichtigen Glasflasche, die auf einem hohen Regal unauffällig neben eingelegten Gehirnteilen und anderen gerichtsmedizinischen Utensilien stand.
    Nachdem er das mit einem Formalin-Aufkleber versehene Gefäß heruntergeholt und auf den Buchenholztisch gestellt hatte, zog er die rechte obere Schublade seines Schreibtischs ein Stück heraus und entnahm ihr zwei kleine metallisch glänzende Nierenschälchen, die er direkt vor sich und seinen ihm gegenübersitzenden Freund platzierte. Dann zog er den Glaskolbenverschluss aus dem Flaschenhals und goss jeweils ein paar Zentiliter der klaren Flüssigkeit in die flachen Chromschüsselchen.
    »1995er Mirabel. Die überreifen Früchte auf meinem Grundstück selbst gepflückt und anschließend auf dem Frönerhof brennen lassen. Alter Junge, sag selbst: Hast du schon jemals so einen weichen Belli gekostet? Ein geradezu himmlischer Genuss! Findest du nicht auch?«
    Tannenberg umfasste mit beiden Händen das flache, kalte, zum Trinkgefäß erhobene Medizinergeschirr, führte es unter seine Nase und schloss die Augen. Dann schwenkte er die Flüssigkeit mit kurzen, rhythmischen Bewegungen vor seinem Kinn hin und her, bis er schließlich mit seinem Riechorgan direkt in die aufsteigende, intensive Duftwolke eintauchte. Jedes Mal, wenn der Alkoholgeruch zu dominant wurde und das zarte Mirabellenodeur überlagerte, zog er seine Nase kurzzeitig zurück, atmete tief aus, um sich dann in den nächsten Sinnenrausch zu schnüffeln.
    Nachdem er diese Prozedur mehrmals wiederholt hatte, hob er das auf Dr. Schönthaler gerichtete hintere Teil des Metallschälchens etwas an und begab sich in die nächste Dimension der sinnlichen Wahrnehmung. Immer noch die Augen andächtig verschlossen, verteilte er laut schmatzend und intensiv kauend den Obstbrannt über die im Mundraum verstreuten Geschmacksnerven. Beim langsamen Hinunterschlucken gewann er den Eindruck, den Mirabellengeist auf jedem Zentimeter seines Weges in das tiefste Körperinnere gedanklich zu begleiten.
    »Und, was sagst du zu diesem wunderbaren Geschenk Gottes?«, fragte der Gerichtsmediziner nach einer angemessenen Wartezeit.
    »Unglaublich gut! So weich und mild. Und trotzdem so intensiv. Wirklich außergewöhnlich gelungen – Respekt!«
    »Vielleicht hab ich mir ja auch nur deshalb damals so viel Mühe gegeben, damit ich dich leichter betäuben kann, bevor ich dich jetzt brutal vernichte!«, sagte Dr. Schönthaler mit der gleichen Klangfarbe in der Stimme, mit der vor langer Zeit ein kleines Mädchen von einem bösen Wolf bedroht wurde.
    »Damit du wenigstens eine Minimalchance hast, musst du mir aber noch ein paar Bellis mehr genehmigen. Komm, gib mir noch einen«, bettelte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission.
    Mit einem verständnisvollen Lächeln auf den Lippen erfüllte der Pathologe die Bitte seines alten Freundes.
    Tannenberg begab sich in der Zwischenzeit zu einer direkt neben einem herumbaumelnden menschlichen Skelett befindlichen hüfthohen Glasvitrine und entnahm ihr ein hölzernes Schachspiel, auf dem alle Figuren in Grundaufstellung angeordnet waren. Danach schob er das Brett vorsichtig auf die Schreibtischauflage, pflückte zuerst einen weißen, dann einen schwarzen Bauern vom karierten Spielfeld und versteckte die beiden hinter seinem Rücken.
    Wie fast immer deutete Dr. Schönthaler zielsicher auf diejenige Hand, die den weißen Bauern kurzzeitig beherbergte.
    »Wolfram, was passt am besten zu den Frauenmorden?«
    »Was? Wie meinst du das?«, fragte Tannenberg verständnislos.
    Der Gerichtsmediziner ging nicht auf die Frage ein, sondern zog d2 – d4.
    »Oh nein, Rainer, bitte kein Damengambit«, jammerte der altgediente Kriminalbeamte.
    »Wieso? Es gibt doch nichts, was zur Zeit passender wäre.«
    »Ich hasse diese Eröffnung. Das weißt du doch ganz genau!«
    »Eben deshalb! Da hab ich im Gegensatz zu spanisch oder italienisch wenigstens eine reelle Chance. Irgendwo hab ich mal gelesen, dass man beim Schach immer das tun soll, was der Gegner nicht mag bzw. was er garantiert nicht erwartet.«
    Tannenberg konterte direkt und zog trotzig e7 – e5. »O.K., du hast es so gewollt. Dann spiele ich Albins Gegengambit.«
    Beide Schachspieler schlugen die gegnerischen Bauern, so dass sich die aus Weichholz geschnitzten Damen auf ihren jeweiligen Grundlinien direkt

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