Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
Zeit an dem großflächigen Fenster stehen und blickte auf den belebten Pfaffplatz. Profilerin, SOKO, brabbelte er litaneienartig vor sich hin.
Kommissar Schauß schien die angespannte Gemütsverfassung seines Chefs erahnt zu haben, denn plötzlich tauchte er mit einer dampfenden kleinen Espressotasse in Tannenbergs Büro auf. »Komm, alter Wolf, du wirst dich doch von Hollerbach und dieser Psychotante nicht aus dem Konzept bringen lassen.«
»Nein, das hab ich eigentlich auch nicht vor. Das mit dem Kaffee ist eine richtig gute Idee. Danke, Michael.«
Tannenberg gähnte ausgiebig, schlug sich selbst mit beiden Händen auf die Wangen und schnappte sich den Espresso, an dem er aber nur ein Mal kurz nippte. Dann nahm er einen schwarzen Edding, schrieb ›Jutta Müller‹ auf eine rote Pappkarte und pinnte sie in das D-Zug-Modell an der Wand.
»Die Erkenntnis ist zwar hart, aber es stimmt: Wir haben einfach noch nichts. Wir können nur warten, warten, warten. Warten, bis uns der Kommissar Zufall hilft, oder bis der Täter einen Fehler macht. Aber in der Hinsicht hab ich wenig Hoffnung. Ich weiß auch nicht warum, aber ich hab ein ganz mieses Gefühl. SOKO – so ein Quatsch! Was verspricht sich denn der Hollerbach davon? Jeder weiß doch, dass die Leiter der anderen Abteilungen nur die Gurken zu uns abstellen, die, die sie sowieso los werden wollen, weil das alles Faulenzer sind.«
»Na, Wolf, übertreibst du da nicht ein bisschen? Die Kollegen können uns schon ziemlich entlasten.«
»Wir werden ja sehen, ob das was bringt. Und dann dieser Psychologen-Quatsch! Profilerin, auch noch eine mit Doppelnamen, dass ich nicht lache! Was kann die mir denn schon Neues erzählen. Die drückt sich doch nur irgendwelchen theoretischen Schwachsinn aus den Rippen. Weißt du was, ich geh mal zum Doc in die Pathologie. Vielleicht hat der inzwischen noch was Interessantes gefunden. Außerdem ist es dort schön kühl. Hast du den Mann der Toten eigentlich nochmals befragt?«
»Nein, dieser Herr Müller war nicht zu erreichen. Seine Mutter hat nur gesagt, dass er spazieren gegangen sei. – Zur Weltachs, wenn sie ihn richtig verstanden hat.«
Manchmal wurde Tannenberg von merkwürdigen Vorahnungen hinsichtlich unabwendbarer Ereignisse in der näheren Zukunft heimgesucht.
Vor einiger Zeit hatte er irgendwo einen sehr inspirierenden Artikel eines Gehirnforschers gelesen, der behauptete, dass die Vorstellung, der Mensch verfüge über einen freien Willen, eine grandiose Illusion sei. Wissenschaftliche Untersuchungen hätten zu Tage gefördert, dass man innerhalb eines für eine bestimmte Entscheidung zuständigen Hirnareals bereits Aktivitäten messen könne, bevor sich das Bewusstsein überhaupt mit der vermeintlich zur Entscheidung anstehenden Frage beschäftigt. Was nichts anderes als die Tatsache bedeutete, dass unser Gehirn einige Zeit vorher bereits das entschieden hat, was wir später meinen, selbst zu entscheiden.
Die notwendigen Schlussfolgerungen aus dieser bahnbrechenden Erkenntnis hatte er schon des öfteren mit seinem Freund Dr. Schönthaler diskutiert. Sie waren jedes Mal zum selben Ergebnis gekommen: Wenn diese Theorie stimmte, wäre kein Verbrecher mehr für seine Schandtaten gerichtlich zu belangen, könnte er sich doch immer darauf berufen, überhaupt keine Entscheidungsfreiheit besessen zu haben und damit nur ein Opfer seines verrückten Hirns zu sein. Der Gerichtsmediziner fand die Vorstellung, nur ein Gehirn, und nicht den ganzen Menschen vor Gericht zu stellen und schließlich zu verurteilen, in höchstem Maße erheiternd.
Tannenbergs Visionen waren oft begleitet von einer ausgeprägten Schadenfreude darüber, dass er gerade im Begriff war, etwas zu tun, was er eigentlich nicht tun sollte. Aber er hatte ja keine Chance, sein Körper war schließlich nur ein Werkzeug seines Gehirns, dem er willenlos ausgeliefert war. Er war also für sein Tun nicht verantwortlich.
Tannenberg schmunzelte bei diesen Gedanken.
Er wusste ganz genau, warum er gerade jetzt den Gerichtsmediziner besuchen musste, obwohl ein Telefonanruf eigentlich ausgereicht hätte.
»Rainer, mach das Ding aus und komm mal in dein Büro«, schrie Tannenberg in die aufkreischende Minikreissäge, mit der Dr. Schönthaler gerade den Brustkorb der Toten öffnen wollte.
»Augenblick, ich muss nur noch den Hähnchenschnitt setzen.«
Tannenberg war klar, was sein Freund damit meinte: Er musste noch den oberen, letzten Teil des Brustbeins
Weitere Kostenlose Bücher