Pinguine frieren nicht
hatte Viktor Ljoscha geholfen, sich abzutrocknen, seinen, Viktors, alten Trainingsanzug anzuziehen, sich in den Rollstuhl zu setzen und unter einiger Mühe damit in die Küche zu fahren.
[371] Sie aßen schon Nudeln, als Nina erschien.
»Das ist Ljoscha«, stellte Viktor seinen Bekannten vor. »Er wohnt fürs erste bei uns.«
Nina nickte verwirrt und starrte den Gast an.
»Und wo soll er schlafen?« fragte sie nach einer Minute.
»Das sehen wir dann.«
»Du wirst ganz schön Ärger mit ihr kriegen!« flüsterte Ljoscha, als Nina rausgegangen war.
»Dies ist meine Wohnung«, erklärte Viktor leise. »Willst du Tee?«
»Wodka kriege ich keinen?«
»Nein.«
»Zum Teufel mit dir, dann eben Tee. Aber gib viel Zucker rein!«
Sie legten Ljoscha ins Wohnzimmer auf zwei einander zugewandte, zusammengeschobene Sessel. Sonja hatte sich geweigert, ihr Sofa für den Gast zu räumen. Aber Ljoscha war anspruchslos und friedlich.
Morgens hatte Ljoscha das Gefühl, als ob ihm jemand übers Gesicht streichelte. Er schlug die Augen auf und sah die Katze neben sich, eng zusammengerollt. Er pustete sie an, sie reagierte nicht. Da drehte er sie so, daß ihr Schnäuzchen ihm zugewandt war.
»Jetzt erschrecke ich dich!« flüsterte er und hauchte sie an.
Die Katze wandte sich träge von ihm ab, und Ljoscha staunte. Er stemmte sich auf den Ellenbogen und sah auf die schlafende Sonja. Der gestrige Tag fiel ihm ein, dann das Café ›Afghanistan‹, und er versank in Nachdenken. Nachdem er eine Weile auf die Stille gelauscht hatte, ließ er [372] sich vorsichtig zu Boden gleiten und robbte wie ein Baby auf Ellenbogen und Unterarmen in den Flur. Er betrachtete die Wohnungstür und das Milchschüsselchen. Er hatte furchtbaren Durst. Ljoscha seufzte, reckte sich nach dem Schüsselchen und trank den kleinen Rest Milch aus, der noch drin war. Danach robbte er in die Küche. Unter dem Tisch sah er die Schreibmaschine mit dem eingezogenen Blatt, und die Neugier trieb ihn, den getippten Text zu lesen. Gleich war ihm zumute wie bei einem Begräbnis, nur nicht eines, wie er sie einst bewacht hatte, sondern ein richtiges, bei dem man jemand Nahestehendes beerdigte. Die Frage ›Was jetzt?‹ setzte sich in seinem Kopf fest. Er dachte an Viktor und begriff, daß der wirklich traurig und allein war. Er verspürte sogar den Wunsch, ihm zu helfen, aber wie? Und auf der Stelle war ihm nach etwas Alkoholischem zumute. Nach Wodka. Ljoscha ließ den Blick durch die Küche streifen, kroch zum Kühlschrank und sah hinein. Aber da war kein Wodka.
71
In den ersten paar Tagen versuchte sich Ljoscha an die neuen Umstände zu gewöhnen. Es fiel ihm schwer. Nur Sonjas Direktheit lenkte ihn ab und heiterte ihn sogar ein wenig auf. Als erstes wollte sie wissen, welche Straßenbahn Ljoscha die Beine abgetrennt hatte. Er erfand aus dem Stegreif, es sei die Zwölf gewesen und am Steuer habe eine blinde Fahrerin gesessen und ihn deshalb nicht gesehen. Aber Sonja war noch nicht beruhigt. Sie wollte wissen, ob [373] die abgetrennten Beine weh taten. »Normalerweise tun sie lange weh«, antwortete Ljoscha lächelnd. »Aber bei mir haben sie bald damit aufgehört.«
»Weißt du«, erklärte das Mädchen nach einer vielsagenden Pause. »Du wärst ein guter Ehemann!«
»Wieso?«
»Weil du die ganze Zeit zu Hause wärst, du würdest dich nicht herumtreiben und nicht wegfahren! Hast du Kinder?«
»Nein.«
»Siehst du!« stellte Sonja vorwurfsvoll fest. »Du mußt heiraten!«
Nina und Ljoscha sprachen fast gar nicht miteinander. Wenn ihre Blicke sich trafen, lächelte sie nur und verschwand in der Küche oder im Schlafzimmer. Es war nicht klar, was sie dachte. Aber ihre Nachgiebigkeit erstaunte Viktor immer noch, und er dachte jetzt sogar mit größerer Wärme an sie als noch vor kurzem. Aber dennoch reichte diese Wärme in seinen Gedanken und Gefühlen nicht, um nachts näher zu ihr zu rücken und sie zu umarmen. Sie schliefen in dem großen Doppelbett, aber Viktor hielt immer Distanz zwischen ihnen. Zum Glück ließ die enorme Decke das zu.
So war Nina auch heute ohne ein Wort losgegangen, um etwas für Viktor zu erledigen. Sie lief zur Post und schickte die Tüte mit Sewas Asche zu dessen Eltern. Sie hatte nicht einmal gefragt, was das war und wozu.
Und Viktor fuhr nach Teofania zu Ilja Semjonowitsch. Der nahm den Verband ab, bearbeitete die Wunde noch mal und beruhigte Viktor, in ein paar Tagen könne er auch den [374] Verband vergessen. Überhaupt kam das
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