Pinguine frieren nicht
gleichen.
»Steh auf!« Viktor faßte ihn an der Schulter. »Hörst du?«
Ljoscha öffnete die Augen und wandte Viktor den Kopf zu, dann hievte er sich auf einen Ellenbogen und drehte sich auf den Rücken.
Seine rechte Hand wanderte zum Boden und tastete vorsichtig durch die Luft. Viktor folgte den Bewegungen der Hand und sah, was sie suchte – auf dem Boden stand eine nicht ganz geleerte Wodkaflasche.
Nachdem er einen Schluck genommen hatte, starrte Ljoscha Viktor ins Gesicht.
»Was machst du hier?« fragte er heiser.
»Einfach so, ich wollte dich besuchen.«
»Willst du was trinken?«
[368] »Nein.«
»Dann hol mir ein Fläschchen. Auf deine Kappe, ich gebe es dir später wieder. Sie haben mir gerade die Invalidenrente aufgestockt!«
Viktor schüttelte den Kopf.
»Ich gehe nicht.«
»Was willst du dann?«
Viktor sah Ljoscha an, und ihm wurde traurig zumute. Wenn ein Mensch schon im Liegen trank, dann stand er wohl kaum je wieder auf. Und fehlende Beine hatten damit gar nichts zu tun.
»Ich komme gleich wieder«, erklärte Viktor entschlossen und verließ das Zimmer.
Der Fahrer des alten Moskwitsch erwies sich als äußerst nachgiebig oder sehr arm. Für zehn Griwni war er bereit, nicht nur den invaliden Passagier zu transportieren, sondern auch Viktor zu helfen, ihn in den vierten Stock hoch zu tragen. Der zusammengeklappte Rollstuhl paßte nur mit Mühe in den Kofferraum.
»Wo schaffst du mich hin?« fragte Ljoscha unterwegs, während er durchs Fenster auf die vorbeiziehende winterliche Stadt blickte.
»Wir fahren zu mir«, antwortete Viktor. »Wir bringen dich wieder in Ordnung!«
»Und wieso?«
Ungeachtet seines schon ziemlich lang andauernden ununterbrochenen Suffs stellte Ljoscha konkrete und exakte Fragen.
»Einfach so, damit du wieder normal lebst, wie alle.«
»Glaub ich nicht, Bruder!« Ljoscha wandte sich zu [369] Viktor. »Was willst du von mir? Die Wahlen sind doch vorbei!«
»Ich will ja gar nichts von dir!« Viktor begann sich aufzuregen. »Ich schulde dir was! Klar? Hast du nicht damals für Mischa-Pinguin Arbeit gefunden?«
»Wieso fängst du davon an?« Ljoscha sah Viktor unbehaglich an. »Welche Arbeit? Mußtest du das erwähnen! Ich habe übrigens auch das Geld für seine Operation aufgetrieben!«
»Schon gut, entschuldige!« Viktor seufzte tief. »Wie kann ich es dir einfacher erklären? Ich will dir eben helfen, du bist doch ein normaler Mann! Ich habe doch…«, Viktor breitete hilflos die Arme aus, »…hier keine Freunde mehr.«
»Ich auch nicht.« Ljoscha zuckte die Achseln. »Na dann, wollen wir jetzt Freunde sein, Schach spielen und so?« Auf seinem Gesicht erschien ein sarkastisches Lächeln.
»Ach, zum Teufel! Wir waschen und bügeln dich, und dann verschwinde doch, wohin du willst! Ich bringe dich wieder in deine Höhle zurück!«
Weiter fuhren sie schweigend. Nur der Fahrer, ein älterer glatzköpfiger Mann in einem alten kurzen Mäntelchen mit Persianerkragen, beobachtete von Zeit zu Zeit seinen beinlosen Passagier im Rückspiegel.
70
Zu Hause war keiner da, und Viktor ließ als erstes die Badewanne vollaufen. Ljoscha saß im Flur auf dem Boden und starrte dumpf auf das Milchschälchen.
[370] »Hast du Mischa gegen eine Katze eingetauscht?« fragte er.
»Warte eine Minute, ich laufe schnell noch mal runter«, sagte Viktor und ignorierte die Frage.
Unten lag noch der aus dem Kofferraum gezerrte Rollstuhl.
Dann, als Viktor Ljoscha gerade half, sich auszuziehen und in die Wanne zu hieven, kam Sonja.
»Wir spielen unten bei Tanja, mach dir keine Sorgen!« erklärte sie und lief wieder hinaus.
Sie mußten die Hälfte des Wassers wieder aus der Wanne lassen, denn für Ljoscha war es schwierig, im Wasser zu sitzen. Er hatte einfach Angst zu ertrinken.
Viktor gab ihm eine Bürste und Seife.
»Wasch dich, ich kümmere mich ums Essen!«
Während er die Nudeln aus dem Schrank nahm, hörte er das Plätschern im Bad. Er dachte daran, wie vor einem Jahr das gleiche Plätschern von dort herübergeklungen hatte, als Mischa-Pinguin im kalten Wasser planschte.
›Wo ist er jetzt?‹ dachte Viktor. ›Bei den Hunden? Wann erfüllt Chatschajew bloß sein Versprechen?‹
Er seufzte. Er und Ljoscha erschienen ihm jetzt als genausolche Pinguine, wie Mischa einer war, hilflos und auf irgend etwas wartend. Auf Futter und Wärme? Wärme brauchen Pinguine natürlich nicht. Und die Zeit war auch günstig, kalter Winter. Jetzt hätte Mischa es leichter.
Bis Nina kam,
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