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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Leben allmählich wieder in Fluß. Nur eines beunruhigte Viktor. Die Zeit verstrich, aber von Chatschajew rief niemand an. Sonja hatte schon etwa zehnmal nach Mischa gefragt: ob er zu Neujahr da sein würde und was man ihm als Geschenk kaufen sollte.
    Der Gedanke an Neujahrsgeschenke holte auch Viktor ein, als er seine Leinentasche vom Schrank nahm und nach dem goldenen Klumpen sah. Als er mit der Handfläche über das rauhe Gold fuhr, spürte er die feinen Staub- und Aschepartikel zwischen seiner Haut und dem Metall rieseln. Er wusch den Barren mit heißem Wasser, als ob er versuchen wollte, das Gold von seiner Herkunft und dem ganzen Grauen und Leid reinzuwaschen, aus dem es gegossen war.
    Nachdem er den Barren wieder versteckt hatte, kehrte er mit dem Emailbecher mit dem aufgemalten Bären Pu in die Küche zurück. In der Küche saß Ljoscha in seinem Rollstuhl am Tisch und las die Zeitungen von gestern, die Nina ihm auf seine Bitte mitgebracht hatte.
    »Weißt du«, bemerkte Ljoscha, ohne den Blick von dem Artikel zu lösen, »das Leben ist schöner, das Leben ist fröhlicher geworden, wie Genosse Stalin sagte. Ich hatte ja seit drei Monaten keine Zeitung in der Hand. Da fange ich an zu saufen, und hier schreiben sie so was: In Rußland sterben zehntausend Menschen im Jahr an gepanschtem Wodka! Und bei uns in der Ukraine nur viertausend! Na?«
    »Nur ein weiterer Grund, nicht zu trinken«, sagte Viktor.
    »Es gibt nie zu viele Gründe, nicht zu trinken!« lächelte Ljoscha. »Aber kaufst du wenigstens Sekt zu Neujahr?«
    [375] »Tu ich.«
    »Und was ist das? Hast du der Kleinen ein Geschenk gekauft?« Ljoscha nickte in Richtung Becher.
    »Nein, das ist meiner«, antwortete Viktor.
    72
    Es blieben noch vier Tage bis zum Neujahrsabend. Die letzten zerfransten ›tschetschenischen‹ Dollars mußte Viktor zu einem schlechteren Kurs eintauschen. In den normalen Wechselstuben hatten sie sie nicht genommen. Und als aus dem dicken Packen kleiner grüner Scheine nur zweihundertzwanzig Griwni geworden waren, begann Viktor ernsthaft nachzudenken. Geschenke konnte man für dieses Geld schon kaufen, aber für ein Neujahrsfestessen war es eindeutig zu wenig. Ihm blieb nichts übrig, als nach Hause zu gehen, seine Leinentasche vom Schrank zu ziehen, sie aufzuknöpfen und die Kreditkarte des toten Bankiers herauszuholen.
    Er fand schnell einen Bankomaten, steckte die Karte ein, wie es auf dem Bildchen erklärt wurde, wählte den Pin-Code und verlangte dann, schon selbstsicherer, von dem Automaten nicht mehr und nicht weniger als tausend Griwni.
    Nach etwa fünfzehn Sekunden schoben sich die neuen Hunderter aus dem Automatenspalt. In plötzlicher Furcht, jemand könnte herbeieilen, ihm dieses Geld entreißen und damit verschwinden, sah Viktor sich nach allen Seiten um. Aber da war niemand. Es fiel sanfter Schnee. [376] Fünfzig Meter von ihm entfernt klopfte der Hauswart mit einer Brechstange das Eis vor dem Fischrestaurant auf und rettete so künftige Restaurantkunden vor möglichen Ausrutschern.
    Jetzt konnte Viktor die Preise etwaiger Neujahrsgeschenke schon entspannter in Augenschein nehmen. Im Kopf bildete sich eine Reihenfolge der Geschenkempfänger heraus. Zuerst Sonja, dann Nina, danach Ljoscha und ganz zuletzt erschien unerwartet Sweta im Gedächtnis. Viktor blieb vor Überraschung sogar stehen. Er dachte an den nächtlichen Kindergarten, Grießbrei mit Kompott und die zusammengeschobenen Kinderliegen.
    Er betrat das Zentrale Kaufhaus und begab sich als erstes zur Spielwarenabteilung. Aber die Spielsachen erschienen ihm alle zu einfach für Sonja. Als ob sie aus dem Barbie-Alter herausgewachsen wäre, ohne nun erwachsener zu sein. Viktor versuchte sich zu erinnern, welche Spielsachen er zuletzt zu Hause gesehen hatte. Und stellte verwundert fest, daß keine einzige Puppe vor seinem inneren Auge auftauchte. Dafür fiel ihm Sonjas von der Nachbarstochter gebissener Zeigefinger ein. Sie spielten Krankenhaus, und Sonja war die Zahnärztin.
    Er schlenderte noch mal die Regale mit den Spielzeugen entlang. Die Doktorpuppe gefiel Viktor nicht. Dafür entdeckte er auf dem obersten Regal einen großen Plüschpinguin. Der war nicht gerade billig, neunundneunzig Griwni. Viktor ging ein weiteres Mal durch die Regalreihen und fand einen Spielzeug-Arztkoffer mit rotem Kreuz auf weißem Plastik, drinnen Plastikspritze, Verbände, Pinzette und Stethoskop.
    [377] Nachdem er bezahlt hatte, versuchte er, den Koffer irgendwie an dem Pinguin

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