Pinguine frieren nicht
männliche Gestalten die Brücke betraten. Er versuchte vergeblich, die Marke des Wagens zu erkennen. Es war jedenfalls kein Shiguli und auch kein Wolga.
Die beiden kamen näher. Sie trugen kurze Pelzjacken mit hochgeschlagenem Kragen, Skimützen auf dem Kopf und Schals, die das halbe Gesicht verdeckten.
[393] »Das Geld!« sagte der eine.
»Und wo ist der Pinguin?«
»Im Auto.«
Viktor zog den Dollarpacken heraus und reichte ihn ihnen. Der eine Tschetschene nahm die Dollar, zog das Gummiband ab und zählte nach. Der zweite sah Viktor dabei ins Gesicht.
»Stimmt«, sagte der Zählende. »Hör zu, willst du ein paar tausend davon verdienen?«
Viktor starrte ihn beunruhigt an.
»Wir brauchen die Adresse von einem Geschäftsmann, der mit Benzin oder Gas handelt«, wurde der Tschetschene deutlicher.
»Solche Bekannte habe ich nicht.«
»Muß kein Bekannter sein!«
»Nein«, wiederholte Viktor. »Ich kenne keinen…«
»Wie du willst!« sagte der, der die Dollars gezählt hatte. Er nickte seinem Partner zu, sie drehten sich um und stapften über den Schnee zu ihrem Wagen zurück.
Viktor wurde nervös. Er ging ein paar Schritte vorwärts, dann blieb er stehen und sah den Männern angespannt nach.
Die Tschetschenen stiegen in den Wagen, und Viktor sah sich schon nach Pascha um. Aber da schlug noch mal eine Tür, der Wagen sprang an, die Scheinwerfer flammten auf, und er fuhr rückwärts zum Weg. Im Licht der Scheinwerfer blieb eine kleine Gestalt auf dem Schnee zurück.
Viktor starrte hin. Er war es, Mischa-Pinguin! Verwirrt und langsam die merkwürdige Gegend musternd, in die er plötzlich geraten war.
[394] »Mischa!« rief Viktor. »Mischa, ich bin hier!« Und er lief ihm entgegen.
Als der Pinguin den Menschen bemerkte, watschelte er auf ihn zu, ohne Hast, mit kleinen, greisenhaften Tippelschritten.
Sie trafen sich am Anfang der Brücke, nicht weit von der Stelle, an der vor ein paar Minuten der Wagen der Tschetschenen gestanden hatte. Viktor hockte sich hin und umarmte Mischa. Für sich selbst unerwartet, weinte er. Die Tränen rannen ihm übers Gesicht. Schneeflocken fielen darüber, blieben haften, tauten sofort und verdünnten die Tränen mit ihrer Kälte.
Ihm war, als wäre er selbst der einsame ratlose Pinguin, der nicht wußte, was er mit seinem Leben anfangen, wie er sich mit ihm zufriedengeben sollte, bis er durch die Tränen hindurch bemerkte, daß Mischa ihn aufmerksam ansah. Er sah ihm mit seinen schwarzen Äuglein ins Gesicht, freundlich und mit außergewöhnlicher Wärme.
»Du hast mich doch erkannt?« versuchte Viktor, eine Bestätigung zu bekommen. »Du bist doch froh, daß wir wieder zusammen sind!«
Der Pinguin wandte den Blick nicht von Viktors Gesicht, und das reichte Viktor, um ihm keine rhetorischen Fragen mehr zu stellen.
»Na also«, murmelte er. »Jetzt ist alles in Ordnung!… Komm, Sonja wartet auf dich!«
Auf dem Heimweg hielten sie an einem Supermarkt, und Viktor kaufte ein halbes Kilo frischen Lachs und eine Packung gefrorener Garnelen.
[395] Unterwegs drehte Pascha sich immer wieder um und beobachtete Mischa.
»Hör mal, er ist ja so dünn! Im Fernsehen sind sie immer dick, wie bei Maxim Gorki. Weißt du noch: ›Ängstlich versteckt der dumme Pinguin den feisten Körper zwischen den Felsen‹?«
»Gorki hat nie lebende Pinguine gesehen«, verteidigte Viktor seinen Liebling. »Außerdem war Mischa in tschetschenischer Gefangenschaft. Sie haben ihm Brei zu essen gegeben, und er hat mit Hunden in einer Hundehütte gelebt.«
»Schufte!« Pascha schüttelte den Kopf. »Für so was müßte man sie erschießen! Sie mögen die Russen nicht, okay! Aber was können denn die Pinguine dafür?«
76
In Viktors Wohnung wartete man auf Mischa. Pascha kam nicht mit rauf, sondern erklärte, er habe heute noch was zu tun. Er erinnerte Viktor daran, was Sergej Pawlowitsch ihm aufgetragen hatte, gab ihm seine Visitenkarte – ›Volksabgeordnetenberater für Sicherheitsfragen‹ – mit seiner Handynummer und fuhr davon.
Viktor nahm den Pinguin wie ein Kind auf den Arm und stieg in den vierten Stock hinauf.
Sonja, im Jeansträgerrock mit weißen Strumpfhosen, machte die Tür auf.
»Hurra!« schrie sie und klatschte in die Hände. »Jetzt können wir die Katze wegjagen!«
[396] Viktor stellte Mischa auf den Fußboden im Flur, zog sich Jacke und Schuhe aus. Dann hockte er sich vor Sonja hin und drohte ihr mit dem Finger.
»So nicht!« sagte er. »Erstens jagt man Haustiere nicht
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