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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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kostspielig, zeigst du mir, und dann entscheiden wir! Klar?«
    »Bittbriefe?« fragte Viktor für alle Fälle noch mal nach, in Gedanken noch ganz bei der soeben empfangenen unerwarteten Information.
    [442] »Na, was heißt denn das Wort ›Bitte‹?« fragte Sergej Pawlowitsch belustigt. »Du hast wohl über die Feiertage mit deinem Pinguin ganz schön auf den Putz gehauen!«
    Drei Kilogramm Briefe, Faxe und simple Zettel warteten auf Viktor. Pascha half ihm, sie in ein dickes Paket zu schnüren und in eine Marlboro-Tüte zu pressen. Bevor er das Haus verließ, vertiefte Viktor sich noch kurz in die amerikanische Landschaft auf der Tüte. Er stellte sich eine andere, einheimische Tüte vor, mit der Aufschrift ›Weißmeerkanal‹, und die zu den heimischen ›Papirossi‹ passende Landschaft dazu.
    »Tut mir leid, Alter«, erklärte Pascha. »Ich kann dich nicht heimbringen. Heute bin ich mit ihm unterwegs« – er nickte Richtung Flur – »noch mal Geschenke ausfahren. Letzte Tour!«
    »Macht nichts«, beruhigte ihn Viktor. »Ich komme auch so nach Hause.«
    86
    Der leichte Frost war herrlich frisch, und die Stadt wurde allmählich lebendig. Über den Kreschtschatik schlenderten die Leute und atmeten sich die Festtagserschöpfung aus der Brust. Sie hatten natürlich noch zahllose weitere Trinkrunden vor sich. Das orthodoxe Weihnachtsfest stand noch an, danach das Neujahr nach dem alten Kalender. Bevor er die Stufen ins Kellercafé ›Alt-Kiew‹ hinunterstieg, warf Viktor noch einen Blick in die Runde. Er betrachtete die Vorbeischlendernden bewundernd und mit [443] ein wenig Neid für ihr Durchhaltevermögen. Ihm selbst war nicht nach noch mehr Feiern. Allein der Gedanke, daß er sich jetzt nicht zum Müßiggang ins Café begab, sondern um zu arbeiten, stimmte ihn froh und nicht weniger munter als die frostige Luft.
    Viktor zog den Packen aus der Tüte, legte ihn vor sich auf den Tisch und begann ihn aufmerksam durchzusehen. ›Aufmerksam‹ galt für das erste Dutzend Bittbriefe. Weiter wurde Viktors Blick flüchtig, aus zusammengekniffenen Augen. Mißtrauen gegenüber den Verfassern dieser Briefe erfüllte ihn zusehends. Da waren zwei Kiewer Feministinnen, die um Geld für die Herausgabe einer eigenen Zeitung und Tickets für einen Flug in die USA baten, um dort an einer Frauenrechtskonferenz teilzunehmen. Der Stadtteilsowjet der Altkiewer Veteranen war bescheidener, sie baten nur darum, die Renovierung ihrer Versammlungsräume zu finanzieren. Ein Kostenvoranschlag über sechstausend Griwni lag bei. Der Wohltätigkeitsfonds ›Kinder – unsere Zukunft‹ beschränkte sich auf die Bitte, auf sein Konto fünfundzwanzigtausend in Dollar zu überweisen. Die Kontonummer war beigefügt. Eine Musikschule bat darum, ihnen einen Klavierstimmer zu bezahlen.
    Viktor hielt inne und gönnte Augen und Kopf eine Verschnaufpause. Im Mund verspürte er ungeachtet des guten Kaffees einen säuerlichen Geschmack. Oder kam das von dem Eindruck, den die Briefe auf ihn machten? Er nahm noch eine Tasse Kaffee und fünfzig Gramm Sakarpatski-Kognak.
    Um alle Briefe zu lesen, bräuchte er noch etwa vierzig [444] Minuten. Zwei Briefe kamen von Kinderheimen, aber sie baten ebenfalls, ihnen Geld zu überweisen, und das flößte Viktor kein Vertrauen ein.
    Er strich den schon durchgesehenen Stapel glatt und starrte in seine leere Tasse.
    ›Vielleicht trotzdem ein paar auswählen?‹ überlegte er. ›Der Chef will doch helfen! Wichtig ist hier nicht die Aufrichtigkeit, wichtig ist die Wohltätigkeit.‹
    Viktor beschloß, Lotterie zu spielen, und zog aufs Geratewohl ein Blatt aus der Mitte heraus. Es kam von einem Kriegsveteranen, der darum bat, ihm bei der Veröffentlichung seiner Memoiren zu helfen.
    Endgültig frustriert legte Viktor den Brief des Veteranen zurück auf den Stapel und schüttelte den Kopf.
    Auf der Straße versenkte er die Tüte mit den Bitten in den erstbesten Mülleimer und wanderte über den Kreschtschatik Richtung Haus der Gewerkschaften. An der Ecke Proreznajastraße blieb er stehen. Die E-Mail fiel ihm ein, die er nach Kroatien geschickt hatte, und er wandte sich bergauf Richtung Internetcafé ›Cyber‹.
    Während er die Proreznaja hinaufging, überkam ihn das merkwürdige Gefühl, als würde er verfolgt. Er sah sich um und erblickte tatsächlich einen Mann, der fast auf gleicher Höhe mit ihm auf der anderen Straßenseite ging und herübersah. Als ihre Blicke sich kreuzten, wandte der Mann sich sofort ab und

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