Pinguine frieren nicht
dunkelrotem Samt bedecktes Podest gestellt und der glänzende Deckel abgehoben. Viktor sah endlich den Toten – ein intelligentes Gesicht mit einer teuren Brille, nur der Kopf war mit einer Binde umwickelt. Der Mann trug einen edlen Anzug, zwei Ringe mit Stein an den Fingern und am Handgelenk eine Rolex.
Viktor schlug einen Bogen um die trauernden Freunde und Verwandten auf die andere Seite und vertiefte sich [53] wieder in den engsten Kreis um den Sarg. Und da erschien die Enttäuschung auf seinem Gesicht als schmerzliche Grimasse – er erblickte einen kleinen, vielleicht vierjährigen Jungen in schwarzem Anzug und weißem Hemd. Da hatte er seinen Pinguin. In Viktor breitete sich plötzlich Leere aus. Er stand reglos da und starrte den Kleinen an, scharf und böse, als hätten ihn nicht seine Augen und seine Erwartungen betrogen, sondern dieser Knirps. Die Enttäuschung war direkt körperlich und legte sich als bitterer, ekliger Geschmack auf die Zunge. Und das alles war auf Viktors Gesicht abzulesen. Er starrte das Kind weiter an und merkte nicht, daß er von zwei Leibwächtern und einem älteren Mann mit platt am Kopf anliegendem grauem Haar beobachtet wurde. Der Grauhaarige warf einem der Leibwächter einen Blick zu, und der nickte zur Antwort.
Eine seltsame allgemeine Bewegung lenkte Viktors Aufmerksamkeit von dem Jungen ab, er beobachtete immer noch erbittert das Geschehen, sah, wie alle Männer zu ihren Handys griffen. Der Grauhaarige, der die anderen überragte, hielt gleich zwei davon in den Händen. Er trat an den Sarg, schob dem Toten ein Handy zwischen die Finger und trat wieder einen Schritt zurück. Er wählte eine Nummer auf seinem Handy, und das Telefon in der Hand des Toten piepte los, dudelte eine elektronische Melodie. Viktor zuckte zusammen und lauschte. Die Melodie war gleichzeitig fremdartig und vertraut. Der Grauhaarige zupfte das smaragdgrüne Tüchlein zurecht, das aus der Brusttasche seines Anzugs ragte, suchte irgendwen mit dem Blick und nickte. Sofort tauchten neben dem Sarg [54] zwei Männer auf. Sie schlossen langsam den Deckel. Die Handy-Melodie klang jetzt etwas gedämpfter.
»›Trügerische Sonne‹!« fiel es Viktor ein, als er den alten Tango endlich erkannte.
Der Sarg wurde ins Grab hinabgelassen, und die beiden Männer – die, wie jetzt deutlich wurde, viel bescheidener als die Umstehenden, trotzdem für Friedhofsarbeiter ungewohnt sorgfältig gekleidet waren – packten zwei Schaufeln, und Erde flog hinunter und schlug unten dumpf auf dem Sargdeckel auf. Der Tango tönte immer noch herauf. Jetzt traten die Freunde und Verwandten zu dem braunen, lehmigen Haufen, nahmen jeder eine Handvoll Erde und warfen sie ins Grab.
Fünf Minuten später war der Tango verstummt. Die Handymusik war gemeinsam mit dem Toten begraben. Viktor fühlte sich bedrückt. Das neue Ritual gefiel ihm nicht. Wer hatte sich das bloß ausgedacht? Und wo war Mischa? Wo war Ljoscha? Oder zeichnete ein anderes ›Institut‹ für dieses Begräbnis verantwortlich?
Hier auf dem Friedhof gab es für Viktor nichts mehr zu tun, und er wandte sich zum Gehen. Er hatte noch keine zwei Schritte getan, als vor ihm zwei Bodyguards in identischen schwarzen Anzügen auftauchten.
»Warte«, sagte einer der beiden, mit einem metallischen Klang in der Stimme. »Du fährst mit uns…«
»Weit?« fragte Viktor.
»Nicht besonders«, antwortete der zweite Leibwächter.
Sie begleiteten ihn zu einem Mercedes-Geländewagen. Einer setzte sich ans Steuer, der andere neben Viktor auf den Rücksitz. Vom Geländewagen aus beobachtete Viktor, [55] wie die Teilnehmer des Begräbnisses auseinanderströmten und zu ihren Autos liefen. Neben ihrem Wagen ging eine Frau in Schwarz mit Sonnenbrille vorbei und hatte den kleinen Jungen an der Hand.
Die Wagen fuhren einer nach dem anderen los. Die Tür des Geländewagens flog auf, und der Grauhaarige schwang sich vorn neben den Fahrer.
»Los geht’s!« kommandierte er. Dann sah er sich zu Viktor um.
In seinem Blick las Viktor eine Art leise Verachtung und Gleichgültigkeit. Er sah Viktor an, als ob es ihn, Viktor, überhaupt gar nicht gäbe.
Ihr Wagen hängte sich ans Ende der langsam über den Friedhof fahrenden Kolonne. Der Grauhaarige seufzte und wandte sich wieder zu Viktor um.
»Wer bist du?« fragte er.
»Ich?« Viktor hob die Schultern. Es fiel ihm wirklich schwer, in zwei Worten so einfach zu sagen, wer er war.
»Ja, du«, wiederholte der Grauhaarige. »Ich verstehe, wenn
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