Pinguine frieren nicht
ungeladene Gäste sich auf fremde Hochzeiten einschleichen, um ein wenig am Büfett zu schmarotzen. Aber auf ein fremdes Begräbnis… Hast du den Toten vielleicht gekannt?«
Viktor schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur sehen… Ich habe jemanden gesucht.«
»Er hat jemanden gesucht«, wiederholte der Grauhaarige nachdenklich. »Na, und, hast du ihn gefunden?«
»Nein. Er hat früher hier auf dem Baikowofriedhof Beerdigungen bewacht…«
»Und wie hieß er?«
[56] »Ljoscha, so ein Bärtiger…«
Der Grauhaarige wechselte einen Blick mit dem neben Viktor sitzenden Wächter. »Interessant. Du hast also den bärtigen Ljoscha gesucht?«
»Kennen Sie ihn?« fragte Viktor hoffnungsvoll.
»Er kennt ihn.« Der Grauhaarige wies mit dem Finger auf den Wächter. »Oder kannte ihn, ich bin nicht auf dem laufenden. Du hast ihn doch gekannt?«
»Der im August in die Luft geflogen ist?« fragte der Wächter.
»Da war was los!« Der Grauhaarige lächelte. »Das war, als sie dem Toten Sprengstoff unter den Kopf gepackt hatten, richtig?«
Der Leibwächter nickte.
»Ein unvergeßliches Begräbnis!« Der Grauhaarige wurde nachdenklich. »Ja… und wieso hast du diesen Ljoscha gesucht?«
Im Tonfall des Grauhaarigen spürte Viktor Gefahr. Er schluckte und versuchte sich zu konzentrieren. ›Reden, viel reden‹, dachte er. ›Schweigen ist gefährlich.‹
»Ich wollte herausfinden, was aus meinem Pinguin geworden ist…«
»Aus deinem Pinguin?« wiederholte der Grauhaarige langsam, und auf einmal wurde er munter. In seinen Augen blitzte echtes Interesse auf. »Also du bist der Kerl, den alle gesucht haben?«
»Wann?«
»Im Mai etwa. Sie haben überall herumgefragt und um Meldung gebeten… Ja, zum Teufel, ich habe sogar dein Foto gesehen!«
[57] »Und wer hat mich gesucht?«
»Es gibt da diese ewig lächelnden Menschen in Zivil, Angehörige eines speziellen Ameisenhaufens. Ziemlich lästig, aber sehr höflich, sie haben mich zweimal vor meinem Haus abgefangen und dringend gebeten, Kopien mit deinem Konterfei unter meinen Leuten zu verteilen. Na, so eine Überraschung! Womit hast du sie denn so geärgert?«
Viktor begriff auf einmal, daß er am Leben war und daß fast niemand etwas über ihn wußte. Jenes miserable ›Kreuzchen‹, das der Dicke über ihn geschrieben hatte, war nie gedruckt worden, aus einem einfachen Grund: es gab keinen Toten. Das heißt, man hatte den Toten gesucht, als er noch am Leben war, ihn aber nicht gefunden. Und, ja, er lebte wahrhaftig noch.
»Suchen sie jetzt nicht mehr?« fragte Viktor hoffnungsvoll.
»Das weiß ich nicht.« Der Grauhaarige zuckte die Achseln. Dann zog er sein Handy aus der Anzugtasche. »Aber ich kann es herausfinden…«
»Lieber nicht«, bat Viktor.
»Ich verstehe«, nickte der Grauhaarige. »Also suchen sie noch. Vielleicht jetzt weniger eifrig. Mein Name ist übrigens Sergej Pawlowitsch.«
»Viktor Solotarew«, stellte sich der Gefangene vor.
Der Geländewagen fuhr aus dem Friedhofstor und legte an Tempo zu. Die ganze Kolonne bewegte sich jetzt die Gorkistraße hinunter zum Moskauer Platz. Viktor sah aus dem Fenster und dachte nach. Er dachte an Ljoscha und Explosionen auf Friedhöfen. Er ging die Bruchstücke des Gesprächs von vor zehn Minuten durch und fischte die [58] Informationen heraus – ›Sprengstoff im Sarg unter dem Kopf des Toten‹, ›er kennt, oder kannte ihn‹… Das meinte Ljoscha. Sergej Pawlowitsch wußte von der Explosion, aber nichts über ihre genauen Folgen. Wenigstens hatte er von Ljoscha nicht gleich in der Vergangenheit gesprochen. Da war also noch Hoffnung. Und vielleicht wußte der Wächter noch mehr.
Viktor fragte den Mann neben sich nach der Explosion.
»Es gab nicht viele Tote, fünf, sechs«, erinnerte sich der Mann. »Ansonsten Verletzte. Diesem Ljoscha hat es angeblich die Beine abgerissen. Vielleicht hat er’s überlebt, keine Ahnung…«
Der Mann erwies sich als wenig gesprächsfreudig, und im Wagen trat wieder Stille ein.
Sie fuhren über den Moskauer Platz und bogen in die Villengegend von Golossejewo. Das Seeufer mit Sandstrand und hölzernen Sonnenschirmen zog an ihnen vorbei.
Fünf Minuten später hielt die ganze Wagenkolonne.
»Wir sind da«, sagte Sergej Pawlowitsch.
»Wo?« wollte Viktor vorsichtig wissen.
»Beim Leichenschmaus.« Der Grauhaarige warf Viktor aus zusammengekniffenen Augen einen nachdenklichen Blick zu. »Los, los, wenn du schon auf dem Begräbnis warst, mußt du auch dem Verstorbenen die
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