Pinguine frieren nicht
durchfressen. In den Gefrierfächern liegt weiß der Teufel was – fünf Sorten gefrorener Fisch, Krebse, Krabben… Es lebt sich gut als Abgeordneter!«
»Was für ein Abgeordneter?« wunderte sich Viktor.
»Na, was für einer! Vom Wahlvolk gewählt!« Der Bursche hob sein Glas. »Komm, wir trinken auf ihn! Ein klasse Mann! Schlägt dir nichts ab! Ich habe ihn zum Spaß um einen Joint gebeten, und er hat mir wirklich einen gebracht!« Der Bursche zeigte seine dicke, selbstgedrehte Zigarette.
Jetzt wußte Viktor, warum es in der Küche nicht nach Tabak roch.
»Und wie kommst du darauf, daß er ein Abgeordneter ist?«
»Erstens ist er reich, also kann er es sich leisten. Und zweitens hängt im Klo sein Wahlplakat über dem Waschbecken! Ich stehe da und kotze, und als es mir bessergeht, gucke ich hoch, und er schaut mich direkt von der Wand an!«
Viktor fühlte eine vage Beunruhigung. Irgend etwas an dem, was der Gitarrist erzählte, störte ihn. Er schluckte seinen Cocktail, der jetzt hauptsächlich nach Wodka schmeckte, stand auf und ging wieder an den Kühlschrank.
»Mach die Augen zu!« riet er dem Gitarristen und öffnete die Tür zu den Gefrierfächern.
Sein Blick fiel auf zwei Etagen voll mit gefrorenem Fisch und exotischen Meeresfrüchten. Viktor wurde nachdenklich. Auf einmal war ihm, als müßte dieser Fisch in [66] Wahrheit für Mischa sein, der irgendwo in der Nähe war, als ob man den Pinguin extra vor ihm versteckte. Aber dann wanderte sein Blick weiter in die unteren Etagen, und dort erblickte er einen ebensolchen Überfluß an gefrorenem Fleisch, Hühnchen, Ente, Rebhühner, und ganz unten etwas schon ganz und gar Sonderbares. Viktor ging in die Knie und beugte sich vor. Vor Erstaunen blieb ihm der Mund offenstehen – im untersten Fach lagen zwei tiefgefrorene Schildkröten. Verwirrt stand Viktor auf, schlug die Tür zu und setzte sich wieder an den Tisch.
»Na? Wie findest du das?« fragte der Gitarrist.
»Wie heißt du?«
»Igor.«
»Igor, weißt du, ob Abgeordnete Schildkröten essen?«
»Bist du schon zu, oder was?« Der Gitarrist lachte. »Ha, ha! Schildkröten… Letzten Monat, auf der Flucht, da habe ich ein paar Tage lang im Wald Igel gefangen und gebraten.«
»Von wo bist du geflohen?«
»Aus der Armee.«
»Und du hast keine Angst, in Unterführungen zu spielen? Sie fangen dich doch wieder ein!«
»Nein!« sagte Igor bestimmt. »Ich bin in Belgorod aus der russischen Armee geflohen und spiele hier in unabhängigen ukrainischen Unterführungen! Ich bin im Ausland!«
»Ja«, bestätigte Viktor. »Hier bist du jetzt Ausländer! Man sieht es den Leuten nicht an… Schmecken Igel?«
»Nein. Aber ich hatte kein Salz, verstehst du. Mit Salz wäre es vielleicht nicht schlecht gewesen… Ja, für mich [67] wird es wohl auch Zeit…«, bemerkte der Gitarrist nachdenklich und goß sich noch mal Wodka ins Glas.
»Haben sie dich denn für das Konzert bezahlt?«
»Nein, ich bin zu schüchtern. Wollte nicht fragen… Ich hab mich hier schon selbst bedient.«
Igor erhob sich mühsam, seufzte und drückte seinen Glimmstengel am Tisch aus.
»So, wo ist meine Gitarre?« fragte er halblaut und sah suchend über den Boden. »Ach, da ist sie ja, die Gute.« Er bückte sich und nahm die Gitarre, als plötzlich die Küche von den Scheinwerfern eines in den Hof hereinfahrenden Autos erleuchtet wurde.
Der Gitarrist setzte sich sofort auf den Boden. Auch Viktor am Tisch duckte sich. Dann wandte er sich zum Fenster und erkannte, daß man ihn gar nicht sehen konnte. Er trat ans Fenster, sah hinaus und erblickte die zwei schon bekannten Leibwächter, die kleine, aber offenbar schwere, gut verschnürte Kartons aus dem Geländewagen hoben und auf den gepflasterten Weg stapelten.
Kurz darauf betrat auch der Hausherr den Hof und redete mit den Leibwächtern, dann ging er wieder ins Haus. Jetzt wurde aus dem nächtlichen Stummfilm draußen eine Tonspur ohne Bild. Im Flur vor der Küche waren Schritte zu hören. Viktor lauschte angespannt. Die Schritte wurden leiser, aber bald darauf erklangen sie wieder vor der Küchentür. Die Tür ging auf. Der Schalter knackte, und das Licht flammte auf. Viktor und Igor blinzelten.
Sergej Pawlowitsch schien vom Anblick der nächtlichen Gäste in seiner Küche nur für einen kurzen Moment überrascht. Er erfaßte die Lage mit einem Blick.
[68] »Schlaflos?« fragte er, ohne auf eine Antwort zu warten. Dann sah er Igor an. »Das Konzert ist zu Ende, das Leben geht
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