Pinguine frieren nicht
Maße nehmen? Das ist doch scheißegal, die suchen sich passende aus, und für künftige Invaliden ist dann auch noch was da!«
»Ja… Und der Billardtisch?«
»Das ist doch schon besprochen. Bestell einen Wagen und bring ihn hin!«
Viktor nickte. Anscheinend war alles klar. ›Die Ziele sind klar, die Aufgaben gestellt. An die Arbeit, Genossen!‹ Auf einmal mußte er wieder an die letzte Nacht denken. Sie rief weiter keine Fragen in ihm hervor, nur ein merkwürdiges Detail war ihm unklar, und auch das kam ihm irgendwie albern vor. Das heißt, Viktor kam sich albern vor, weil dieses Detail ihm noch im Gedächtnis herumschwirrte und um Erklärung bat.
»Sergej Pawlowitsch, dieses Restpostendepot, lagern [140] dort wirklich irgendwelche Restposten? In dem Hangar?«
Der Chef starrte Viktor mit großen Augen an.
»Mein Freund, du hast wirklich keine Ahnung vom Leben! Dort sitzen die Restposten in Zellen, und im Hangar gibt es Ersatzteile für ausländische Wagen. Zwei getrennte Geschäfte. Eins vom Vater, eins vom Sohn.«
Eine halbe Stunde später, nachdem er sich rasiert und, um munter zu werden, gewaschen hatte, rief Viktor die Fernsehjournalistin zurück, und die war überraschend schnell bereit, die Prothesenübergabe für die Nachrichten zu filmen. Nach einer Stunde kam der bestellte Lastwagen mit den Packern. Vier kräftige Männer trugen den Billardtisch und seine vier massiven Füße aus dem Keller hoch und luden alles ein. Die Kisten mit den Prothesen packten sie dazu. Die Packer kletterten selbst in den Laderaum, Viktor setzte sich vorn neben den Fahrer, und dann fuhren sie nach Tatarka.
23
Es blieben noch sieben Tage bis zur Wahl.
Sie öffneten die Kisten mit den Prothesen eine halbe Stunde vor dem feierlichen Moment. Ein kleingewachsener Arbeiter übernahm diese Aufgabe, den Pascha mit einem Zehndollarschein von der benachbarten Baustelle abgeworben hatte. Der Mann roch nach Wodka und Zwiebeln, und Viktor hielt sich möglichst von ihm fern. Erst als die vier Kisten geöffnet neben der Bar im Café [141] Afghanistan standen, ging Viktor hin und besah sich ihren Inhalt. Ihm fiel gleich auf, daß die Prothesen kaum verpackt waren. Man hatte sie einfach mit Luftpolsterfolie und Tesafilm umwickelt. Viktor nahm eine Prothese in die Hand, wickelte sie aus der Folie und war verblüfft: Das Plastikbein mit dem beweglichen Kniegelenk hatte eindeutig Kindergröße. Viktor schaute sich noch ein paar Prothesen an und überzeugte sich davon, daß all diese künstlichen Gliedmaßen nicht für Erwachsene gedacht waren. Er begriff alles, als er zwischen den Prothesen eine durchsichtige Dokumentenhülle sah. In den Papieren wurde auf englisch mitgeteilt, daß ein Fonds der Ruanda-Kinderhilfe die Prothesen bezahlt hatte. Auch die Adresse dieses Fonds fand sich da: Salzburg, Österreich. Warum sie hier in Kiew gelandet waren, erklärten die Papiere nicht.
Beunruhigt hielt Viktor Ausschau nach Pascha. Der zeigte gerade dem Arbeiter die Billardtischbeine und erklärte ihm seine nächste Aufgabe. Der Arbeiter nickte nachdenklich, aber in seinem Blick schimmerte ängstliche Unsicherheit. Er hatte in seinem bisherigen Arbeitsleben vermutlich noch keine Beine von Billardtischen abgesägt.
Pascha erschrak ernsthaft, als er von den Prothesenmaßen erfuhr. Aber kaum zeigte sich die Angst auf Paschas Gesicht, kehrten bei Viktor Ruhe und Überlegung zurück.
»Wir müssen die Kisten wieder zumachen.« Viktor fühlte, wie sein Herz zu einem gleichmäßigen Rhythmus zurückfand, als ob selbst sein Körper stolz auf seinen Besitzer wäre, der jetzt so wichtige Entscheidungen traf. »Wir übergeben die Kisten verschlossen.«
Die Fernsehleute trafen mit Verspätung ein, aber auch [142] der Chef kam etwa fünfzehn Minuten zu spät. Man beschloß schließlich zu filmen, wie die Kisten ins Café ›Afghanistan‹ hineingetragen wurden. Zu diesem Zweck mußte man sie natürlich erst auf die Straße hinausbringen. Hier kam wieder der übelriechende Arbeiter zum Einsatz, und dreimal hintereinander wurde das Hereintragen der Kisten aufgenommen. Dann schüttelte Sergej Pawlowitsch, glattrasiert, im Tweedanzug, das graue Haar von Haarspray glänzend, einem jungen beinlosen Invaliden, dem Besitzer des Cafés, die Hand. Auf dem Gesicht des Invaliden drückte sich Dankbarkeit aus. Auch Ljoscha glänzte vor der Kamera, und auch ihm schüttelte Sergej Pawlowitsch die Hand. Eine langbeinige junge Frau mit einem außergewöhnlich
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