Pinguine frieren nicht
wegen, sondern um in der Ausfahrt nicht aus der Kurve zu fliegen.
Viktor döste auf dem Rücksitz. Der Chef kaute konzentriert auf der Lippe. Als sie den Internationalen Platz erreichten, ließ er Pascha zum Stadtteil Winogradar abbiegen.
»Zur Kommandozentrale?« fragte Pascha.
Sergej Pawlowitsch nickte und versank wieder in seinen Gedanken.
22
Viktor erwachte gegen drei Uhr nachmittags. Der Rücken tat ihm weh – das hatte er davon, daß er im Sitzen im Auto geschlafen hatte. Vor dem Dachfenster strahlte die Sonne vom tiefblauen Himmel. ›Der Altweibersommer ist da‹, überlegte Viktor.
Er stieg hinunter und stieß auf der Treppe mit Pascha zusammen.
»Was passiert jetzt?« fragte er den Leibwächter.
»Der Chef hat sich für ein Stündchen hingelegt«, [137] antwortete Pascha. »Und er hat gebeten, daß du nirgendwo hingehst.«
Viktor kochte sich einen Kaffee und setzte sich an den Tisch in der Küche. Ein verwundertes Grinsen hielt sich noch eine Weile auf seinem Gesicht. ›Der Chef hat gebeten, daß ich nirgendwo hingehe?‹ wiederholte er im Geiste, während er in kleinen Schlucken den starken Kaffee trank. ›Bin ich etwa schon mal irgendwo hingegangen, ohne zu fragen?‹
Im Vorzimmer klingelte das Telefon. Viktor nahm ab.
Eine Fernsehjournalistin stellte sich vor und wollte wissen, ob Sergej Pawlowitsch eventuell im Ersten Nationalen Kanal an einer Fernsehdebatte mit seinem Konkurrenten teilnehmen würde.
»Rufen Sie in einer Stunde wieder an, bitte«, antwortete Viktor. »Sergej Pawlowitsch ist gerade nicht im Haus.«
»Würden Sie meine Handynummer notieren«, bat die angenehme Frauenstimme. »Irina Chmelenko, 259-60-60… Könnten Sie ihn bitten, daß er mich zurückruft, wenn er kommt?«
Viktor notierte und versprach, es weiterzuleiten. Er verabschiedete sich und kehrte zu seinem Kaffee zurück. Dann stellte er sich im Geist diese Fernsehdebatten vor und hätte sich fast über seinen Phantasien verschluckt. Aber seine Phantasie war gar zu nah an der Wahrheit. Solche Fernsehdebatten konnten mit wüsten Beschimpfungen beginnen und mit einer Prügelei vor laufenden Kameras enden. Wäre der Konkurrent kein Ex-Boxer, bräuchte man sich auch nicht mal aufzuregen. Das Volk liebt simple Spektakel. ›Action‹ kommt bei den [138] Zuschauern und Wählern besser an als Text. Und wenn der Chef den Konkurrenten auf die Bretter schickte, da gab es keinen Zweifel, dann würde das Volk für ihn stimmen. Die Leute stimmten für die Starken. Nur hatte Viktor seine Zweifel an einem solchen Ausgang der Fernsehdebatte.
Eine Stunde später schon berichtete er Sergej Pawlowitsch am Küchentisch von der Anfrage des Ersten Nationalen Fernsehkanals. Sergej Pawlowitsch stimmte den Argumenten gegen eine Fernsehdebatte erstaunlich schnell zu.
»Schlag ihnen doch vor, daß auch die Vertrauensleute der Kandidaten auftreten sollen. Der ›Boxer‹ hat lauter so Typen um sich, kein einziger sauber. Alles Narbengesichter.«
»Darauf werden sie wohl kaum eingehen«, seufzte Viktor. »Aber wir müssen etwas tun, bis zur Wahl ist es nur noch eine Woche. Sie brauchen doch noch irgendwelche Propaganda!«
»Wieso?« wunderte sich Sergej Pawlowitsch. »Haben wir zu wenig Propaganda?«
Sofort zog er ein Handy aus der Anzugtasche und wählte eine Nummer.
»Was haben wir an Propaganda?« fragte er streng. Dann lauschte er etwa fünf Minuten und steckte das Handy wieder ein.
»Den Wählern wurden zweihunderttausend Zettel mit deinem Programm und dem Wahlaufruf persönlich in die Hand gedrückt, es wurden neunzigtausend Lebensmittelpakete an die Pensionäre verteilt und Listen von allen Bedürftigen erstellt, die nach meinem Wahlsieg materielle Hilfe erhalten, drei Schulen haben wir Computerklassen [139] geschenkt… und ein Haufen anderer Kleinigkeiten! Plus deine Prothesen, übrigens! Findest du das wenig?«
»Nein, das ist gut«, sagte Viktor beruhigt. Er erkannte jetzt nur, daß er nicht auf dem laufenden war.
»Ja, übrigens, die Prothesen…« Der Chef trank seinen Kaffee aus. »Schlag diesem Mädel vom Fernsehen vor, die Prothesenübergabe an die Invaliden zu filmen!«
»Die Prothesen sind schon da?«
Sergej Pawlowitsch wies mit dem Kopf hinter sich. »In der Garage! Vier Kisten aus einem Hilfsfonds. ›Made in Sweden‹.«
»Man nimmt doch eigentlich erst die Maße, individuell…«, wunderte sich Viktor.
»Was redest du denn da?« Sergej Pawlowitsch schnitt eine Grimasse. »Wer wird denn acht Tage vor der Wahl
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