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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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in die Wanne. Viktor stand vom Tisch auf und ging aus dem Zimmer. Den Computer ließ er eingeschaltet. Als er die Treppe hinunterstieg, hörte er, wie ein Wagen in den Hof fuhr.
    Es war Pascha, der ankündigte, daß der Chef erst spät zurückkommen werde. Viktors innere Unruhe wuchs weiter, und er verspürte nicht den kleinsten Wunsch, Pascha davon zu erzählen. Vielleicht war Pascha in alle Methoden und Maßnahmen des Wahlkampfes eingeweiht, und Viktor wollte gar nicht eingeweiht werden. Er empfand jetzt sogar eine besondere Dankbarkeit gegenüber Sergej Pawlowitsch, dafür, daß der Chef ihn nicht eingeweiht hatte und ihn erst, als er fragte, über seine diverse Propaganda informiert hatte. Und das übrige? Das übrige hatte Viktor schon in diesem Restpostendepot gesehen. ›Wie viele Restposten kommen in diesem Wahlrennen wohl um?‹ überlegte Viktor. Genaugenommen hatte er ja ebenfalls ›Kreuzchen‹ geschrieben, deren Helden auch zu ›Restposten‹ wurden und leicht entsorgt wurden.
    »Glaubst du, er braucht mich dann noch?« fragte Viktor Pascha.
    »Kaum.« Pascha zuckte die Achseln. »Er hat heute ein paar Termine, den letzten in einer Sauna außerhalb der Stadt. Dort braucht er dich todsicher nicht!«
    »Dann fahre ich mal raus, gehe ein bißchen spazieren.« Viktor rieb sich mit den Zeigefingern die Schläfen, wie um [149] sein Kopfweh und den Mangel an frischer Luft zu demonstrieren.
    »Nur zu, er wird dich schon nicht vermissen!« ermunterte Pascha ihn.
    Es war fast sechs Uhr abends, als Viktor den vertrauten Kindergarten erreichte, in dem rund um die Uhr die Kleine mit Namen Sweta wirkte. Er ging hinein und traf im Flur auf eine alte Helferin. Er fragte sie nach Sweta Aljochina.
    »Die arbeitet doch nur bis zwei!« wunderte sich die Frau über Viktors Unwissenheit. »Sie unterrichtet doch Musik, und Musik gibt es bei uns vor dem Mittagessen und vor der Ruhestunde…«
    Diese Neuigkeit warf Viktor völlig aus der Bahn. Er kehrte auf den abendlichen Kreschtschatik zurück und wanderte an den Schaufenstern entlang. Er betrat ein Café, aber die Ansammlung fremder Gesichter erschreckte ihn plötzlich, und er lief wieder hinaus.
    Im Gehen versuchte er, sich über seinen Zustand klarzuwerden. Erschöpfung? Die Vorahnung drohender Gefahr? Die Berührung mit gefährlicher Information? Igor Lwowitsch hatte damals zu ihm gesagt: »Du wirst alles nur dann erfahren, wenn deine Arbeit, wie im übrigen auch dein Leben, nicht mehr gebraucht wird.« Je weniger du weißt, desto länger lebst du. Das stammte wohl auch von seinem damaligen Chefredakteur. Der hatte eindeutig viel mehr gewußt als Viktor. Lebte er, Viktor, darum noch? ›Ach was‹, dachte Viktor, ›es war Zufall. So ein Zufall hat sich Igor Lwowitsch anscheinend einfach nicht geboten…‹ Igor Lwowitsch hatte keinen Mischa-Pinguin gehabt, der ihm seinen Platz im Flugzeug abtreten konnte.
    [150] Er ging durch eine Unterführung, in der ein hochgewachsener, hagerer Jüngling ein ukrainisches Volkslied a cappella zu Gehör brachte. Vor ihm stand eine Nescafé-Blechdose. Viktor sah im Vorbeigehen, daß nur ein paar einzelne Münzen drinlagen. Er blieb kurz stehen, fischte eine Griwna aus der Tasche und ließ sie in die Dose fallen. Als er schon auf der Treppe war, hörte er im Gesang des Jünglings eindeutig falsche Töne, und es tat ihm leid um die Griwna. Er überlegte, daß es logischer gewesen wäre, die Griwna irgendeiner alten Frau zu geben, von denen es in den Unterführungen genügend gab. Die sangen allerdings nicht. Sie säumten nur die Wände, standen schweigend da mit ihrer ausgestreckten alten Hand.
    25
    Gegen halb acht abends stand Viktor vor seiner Tür, zwei Schlüssel fest umklammert. Erst zögerte er, weil er überlegen wollte, welches Schloß er als erstes aufschließen sollte: das alte oder das neue? Dann zögerte er einfach nur noch und fühlte sich schon jetzt als ungebetener Gast. Richtiger wäre gewesen, sich als ungebetener Hausherr zu fühlen, das hätte den Gedanken eine positivere Richtung gegeben. Aber als Viktor es satt hatte, vor der verschlossenen Tür zu stehen, die er selbst nicht öffnen wollte, drückte er schließlich auf den Klingelknopf. Die Tür ging sofort auf, als hätte Nina ihn die ganze Zeit durch den Spion beobachtet.
    »Gut, daß du da bist«, sagte sie, während sie Viktor in den Flur ließ.
    [151] Viktor dachte: ›Wirklich?‹ Aber als ihm Sonja aus der Küche entgegenkam, atmete er auf. An Ninas

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