Pinguine frieren nicht
Passagiere durchdrang Viktor, verschwand wieder und hinterließ eine diffuse Sehnsucht. Ein Flugzeug war für Viktor schon längst kein einfaches Fortbewegungsmittel mehr – jede beliebige geflügelte Maschine war ein ideales Mittel, um Leben zu retten, ein Fluchtmittel. Vielleicht rettete dieses Flugzeug gerade in diesem Moment ein Leben, indem es einen unbekannten Passagier aus einer nur diesem Passagier bekannten irdischen Gefahr davontrug.
Wieder ging die Eingangstür auf, und der Computerspezialist lief mit eiligen Schritten über den Kies, jetzt mit Jacke und Aktentasche. Viktor wunderte sich – er hatte immer gedacht, wenn Computerleute sich vor einen Bildschirm setzten, dann blieben sie dort stundenlang sitzen. Erst recht, wenn sie dort etwas überprüfen und durchsehen sollten. Aber der Mann hatte es offenbar eilig zu gehen. Als er die Pforte öffnete, blickte er zum Haus zurück. [146] In seinen Augen lag Geringschätzung, fast Verachtung, aber sein Gesicht hatte einen gehetzten und ängstlichen Ausdruck. Als sein über die Fenster streifender Blick auf Viktor fiel, der ihn ansah, wurde die Angst in seinem Blick und seinen Bewegungen noch deutlicher.
Die Pforte fiel zu.
Viktor begab sich in das ehemalige Kinderzimmer, in dem noch vor ein paar Tagen das Hauptquartier der PR -Berater untergebracht war. Er ging zum Computer. Der war eingeschaltet, und über den Monitor flogen kleine, helle Planeten in alle Richtungen. Der Bildschirmschoner tat seine Arbeit.
Viktor drückte auf die Leertaste, das Planetenrennen stoppte, und die Planeten mitsamt dem schwarzen Hintergrund verschwanden. Er setzte sich auf den Stuhl vor dem Computer und betrachtete die Liste der Dateien, die der geflohene Computerspezialist auf dem Bildschirm zurückgelassen hatte. Die Namen der Dateien sagten ihm nichts, und nur so, aus Neugier, klickte er mit der Maus auf einen davon. Irgendein Programm schaltete sich ein, graphische Bildchen lösten einander ab, dann erschien in der Mitte des Bildschirms ein Viereck, und im Inneren dieses Vierecks das Foto eines bekannten männlichen Gesichts mit Kurzhaarfrisur. Viktor sah genau hin und erkannte, daß er dieses Gesicht öfter schon in Zeitungen gesehen hatte, mit seinem Besitzer persönlich aber nicht bekannt war. Er war eines der aktiveren Mitglieder des letzten Parlaments. Er war offenbar Jurist und glänzte gern in Zeitungen und im Fernsehen mit gratis erteilten nützlichen Ratschlägen, angefangen von der Privatisierung des [147] Datschengartens bis zum Kauf kleiner Ladenlokale. Als er das Gesicht des Juristen und Abgeordneten eine Weile betrachtet hatte, sah Viktor am rechten Rand irgendwelche Zeichen. Er fuhr mit dem Pfeil auf das oberste und klickte es an. Da öffnete sich daneben ein anderes Fenster, in dem sich jede Menge interessanter Text verbarg. Hier fanden sich die Marken und Nummernschilder der Wagen, die der Abgeordnete benutzte, seine Privatadresse und die Namen und Adressen seiner beiden Chauffeure. Ein gewöhnlicher Tagesablauf war angeführt, und unten stand in Fettschrift der Hinweis: ›Verwandte und Freunde‹. Viktor fuhr mit dem Pfeil hin, ohne es anzuklicken. Etwas hielt ihn zurück. Er mußte an die Zeitungsredaktion denken, in die der bei ihm untergetauchte Igor Lwowitsch ihn geschickt hatte, damit er für ihn dort aus dem Safe die Flugtickets holte. Er dachte daran, wie er zufällig in diesem Safe den Stapel seiner Nekrologe gesehen hatte, mit den Instruktionen des Chefs und noch einer anderen Person, die ihrerseits dem Chef Anweisungen gab. Hier öffneten sich jetzt vor ihm ähnliche Informationen, nur war alles auf einem anderen Niveau zusammengestellt. Und das Ziel dieser gesammelten Informationen war nicht ganz klar, wenn Viktor auch seine Intuition sagte, daß selbst ein eifersüchtiger Ehemann, der wußte, daß seine Frau die Geliebte dieses Abgeordneten war, nicht so akribisch diese ganzen Daten zusammentragen würde. Und noch eines stand außer Zweifel – die Daten bezogen sich auf die bevorstehenden Wahlen, und das hieß, daß jemand dabei war, sie zu benutzen. Nicht umsonst gehörte ja der Computer mit seinem ganzen Inhalt dieser falschen PR -Berater-Truppe. Nicht, [148] daß Viktors Interesse nun plötzlich erloschen wäre, aber er fühlte sich auf einmal unwohl in seiner Haut, als wäre er gerade frisch und sauber aus dem Bad gestiegen und hätte aus Versehen mit der flachen Hand eine Kakerlake zerquetscht. Es zog ihn, kurz gesagt, wieder zurück
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