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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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fünfzig Dollar gekostet hatte.
    »Hast du etwas ausgesucht?« fragte Marina.
    Viktor tauchte wieder aus seinen Gedanken auf, langsam wie ein erheblich betrunkener Schwimmer.
    »Nein…«
    »Ich bestelle für dich«, sagte Marina und überflog noch mal mit sicherem Blick die Karte. Dann drehte sie sich halb um, und der Kellner straffte sich sofort unter ihrem Blick. »Ein Dutzend Austern, Bliny mit schwarzem Kaviar… Steak auf mexikanische Art mit Bohnenküchlein… Für mich einen Salat mit Lachs, mariniertes Rebhuhn und Hühnerleber am Spieß. Dazu gebratenes Gemüse.«
    Danach griff sie zur Weinkarte. Auch Viktor besah sich die Karte, genauer, er stolperte über den ersten Wein in der [191] Liste – ›Chateau de Charançon grand cru‹ von 1995. Eine Flasche von diesem Wein kostete zwanzigtausend Rubel, fast achthundert Dollar.
    Plötzlich bestellte Marina, ohne zu überlegen, genau diesen Wein. Viktor schluckte und sah sie fassungslos an. Aber sie lächelte nur, wandte sich wieder an den Kellner und bestellte noch zwei Fläschchen ›Evian‹.
    ›Das ist Moskau‹, dachte Viktor vieldeutig und seufzte.
    Wieder kam ihm ein komischer Gedanke: ›Wenn eine Flasche Wein in diesem Restaurant achthundert Dollar kostet, wieviel kostet dann in Moskau ein Begräbnis mit Pinguin?‹ Andere Gedanken kamen hinterher, und Viktor sah Mischa schon auf einer Moskauer Trauerfeier. Aber da senkte sich ein Teller mit Austern und einer halben Zitrone vor ihm auf den Tisch, und die Moskauer Trauerfeier war wie mit dem Rasiermesser abgeschnitten.
    Auf einmal fiel Viktor ein, daß Mischas neuer Besitzer Bankier war. Ein Bankier hatte keinen Grund, auf exotische Arten zu versuchen, Geld zu verdienen. ›Nein‹, dachte Viktor, ›Mischa sitzt jetzt in diesem Privatzoo unter Waschbären und Dachsen und sehnt sich nach seiner Heimat.‹ Denn dafür war die Heimat ja da, daß man sich nach ihr sehnte. Wenigstens die der Pinguine.
    Eine Bewegung fremder Hände seitlich von ihm lenkte Viktor wieder ab, und er wandte den Kopf nach links. Vor ihm stand der Kellner und zeigte ihm eine Weinflasche. Der Name auf dem Etikett entsprach dem ersten auf der Karte, und Viktor nickte. Sogleich entkorkte der Kellner geschickt die Flasche und füllte Viktor einen kleinen Schluck in sein Glas.
    [192] Viktor, mit den Regeln der Weinetikette nicht vertraut, sah Marina an.
    »Probier«, sagte sie. »Wenn er dir nicht gefällt, nehmen wir einen anderen.«
    Viktor probierte. Es war eben Wein, natürlich edler als ein moldauischer Merlot, aber entsprach der Geschmack dem Preis? Er hatte Zweifel. Und angesichts all der Zweifel streckte er unversehens sein Glas Marina hin und lud die Verantwortung für die Entscheidung bei ihr ab.
    Marina lachte. Sie trank einen kleinen Schluck aus seinem Glas und nickte dem Kellner zu.
    Der Kellner schenkte Marina und Viktor je ein halbes Glas ein und ging dann endlich weg. Viktor seufzte erleichtert. Die ersten fünf Minuten saßen sie schweigend und aßen. Marina sah Viktor dabei zu, wie er mit den Austern fertig wurde. Er begriff schnell, was wie sein mußte, und trennte die Auster leicht mit dem Fischmesser von ihrer Schale. Den Geschmack dieser wabbeligen Meeresdelikatesse verbesserte allerdings selbst die ausgepreßte Zitrone nicht. Viktor war enttäuscht, aber er ließ es sich nicht anmerken. Nach der dritten Auster hatte er furchtbar Lust auf Wodka, und als er es nicht mehr aushielt, sagte er es Marina. Er sagte es allerdings ziemlich gewählt: »Zu den Austern würde ja besser was Klares passen!« Er war selber darüber verblüfft, wie ihm dieser hochtrabende Satz von den Lippen kam, und schrieb ihn dem zuvor getrunkenen Kognak, dem prätentiösen Interieur des Restaurants ›Prag‹, den prätentiösen Preisen und sogar Marinas prätentiösen Manieren und der demonstrativen Künstlichkeit ihrer smaragdgrün getuschten Wimpern zu.
    [193] Marina bestellte zweihundert Gramm Smirnoff, und Viktor schenkte ihr ein dankbares Lächeln.
    Nach dem ersten Gläschen Wodka beruhigte sich alles ein wenig. Der Austerngeschmack war von der Zunge getilgt, da trafen gerade richtig die Bliny mit Kaviar ein.
    »Hast du Kinder?« fragte Marina.
    Viktor schüttelte erst den Kopf, dann überlegte er. »Eigentlich doch… eine Art Pflegetochter. Ihren Vater hat man umgebracht, er war mein Bekannter.«
    In Marinas Schlitzaugen leuchtete ein Funke echten Interesses auf.
    »Wie alt ist sie?«
    »Bald sechs«, antwortete Viktor und versuchte

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