Pinguine frieren nicht
mehrspurig dahinbrausten. Viktor wunderte sich über die Stille und betrachtete die Fenster, die diese Wohnung so gegen Außengeräusche abschirmten. Er drückte sich den Finger aufs rechte Ohr und schüttelte den Kopf. Er klatschte in die Hände und lauschte. Nein, er war nicht taub geworden. Das Klatschen war ziemlich kräftig gewesen, aber es hatte nicht geklungen. Als ob der Raum jedes Geräusch verschluckte.
Plötzlich kam Viktor der Gedanke, daß man ihn in diesem Moment vielleicht beobachtete und daß der Beobachter durchaus glauben konnte, er, Viktor, wäre nicht ganz richtig im Kopf oder sternhagelvoll.
[188] Er kehrte zu seinem Sessel zurück. Zur Abwechslung schenkte er sich einen griechischen Ouzo ein, ein halbes Glas, das er mit zwei Schlucken leerte.
Dann horchte er wieder auf die Stille. Er stieß mit seinem leeren Glas an Marinas leeres Glas und lauschte. Wieder erschien ihm der Klang der aneinandergestoßenen Gläser unterdrückt und gedämpft.
›Nein, ich bin blau‹, dachte Viktor kopfschüttelnd.
Marina betrat das Wohnzimmer, aber sie war jetzt völlig verändert. Viktor starrte sie überrascht an: Sie war jetzt ganz in Dunkelgrün gekleidet, ein langer Rock, Bluse, darüber ein feines Wolljäckchen. Und ihre Fingernägel glänzten nun grün. Sie hielt die Finger weit auseinandergespreizt, der Lack war wohl noch nicht ganz trocken.
An ihrer linken Hand steckte anstelle des Smaragdrings ein dünner Goldring ohne Stein, der wie ein Ehering aussah. Auch die Pumps waren dunkelgrün. Auf ihrem Gesicht lag ein ruhiges Lächeln.
Sie pustete auf ihre Fingernägel und betrachtete sie aufmerksam.
»Wir können gehen!« Sie sah von ihren Fingernägeln auf zu Viktor.
Dann ging sie zum Tisch und steckte die Kreditkarte ein.
Auf der Straße war es bereits dunkel. Viktor fuhr auf dem Rücksitz eines dunkelgrünen Lexus über den Kutusow-Prospekt. Neben ihm saß Marina. Am Steuer saß ein etwa fünfzigjähriger Mann in einem eleganten schwarzen Anzug, aber mit einem eher einfältigen Gesicht. Der Wagen [189] hatte schon am Eingang auf sie gewartet, als Marina und Viktor aus dem sechsten Stock hinunterkamen.
Viktor fror ein wenig – Marina hatte ihn mit einem Blick gebeten, seine Jacke nicht anzuziehen. Und tatsächlich bot die antarktiserprobte Jacke nicht den würdigsten Anblick. Für das Bahnhofsgetriebe war sie ideal und half Viktor, sich in nichts von den ergebenen Pilgern des postsowjetischen Lebens abzuheben, die dieses Leben über die Bahnhöfe trieb, auf der Suche nach dem Zug, der sie ins Glück und in die Stabilität fahren würde. Aber außerhalb dieser Bahnhofswelt herrschten andere Gesetze. Auch dort war es üblich, nicht aufzufallen, aber anders. Wie komisch und albern würden sie beide auf dem Rücksitz des Lexus aussehen, wenn er da jetzt in seiner Windjacke säße! Aber so sah man ihn im einigermaßen anständigen dunkelblauen Pulli, einigermaßen anständigen Schuhen und leicht zerknitterten, aber angemessen anständigen Hosen.
Das abendliche Moskau leuchtete viel heller als das abendliche Kiew. Es gab einfach mehr Lichter und Farben, mehr Selbstverliebtheit und grelle Arroganz gegenüber der ganzen Welt. Aus unendlicher Höhe leuchtete wie ein hellerer Mond das Wort Adidas von einem Gebäude herab, einen Kilometer weiter hing ein anderer Mond mit dem Namen Nescafé. Sie folgten diesen strahlenden Markierungen und kamen an den Anfang des Arbat. Der Fahrer hielt an, öffnete erst Marina die Tür und dann, nachdem er hinten um den Lexus herumgegangen war, auch Viktor. Er stieg aus und sah sich um. Der Wagen stand vor dem Restaurant Prag.
[190] Marina wartete schon an der schweren hölzernen Eingangstür, die ein Pförtner ihnen aufhielt.
Im ersten Stock war ein Tisch für zwei für sie reserviert. Man brachte ihnen zwei Speisekarten in ledernem Einband und eine Weinkarte.
Eine auffallend prächtig gekleidete Blondine kam an ihnen vorbei. Sie nickte Marina grüßend zu. Marina lächelte zurück und vertiefte sich in die Speisekarte.
Hinter ihr stand schon der Kellner und wartete geduldig auf die Bestellung.
Viktor blieb mit dem Blick an den Preisen hängen und konnte sich einfach nicht mehr konzentrieren. Selbst die Preise für die Vorspeisen schmerzten – von fünfzig Dollar an aufwärts. Als erstes kam ihm in den Sinn, daß es für das gleiche Geld viel netter gewesen war, mit Sweta Grießbrei zu essen. Den Grießbrei hatte es natürlich umsonst gegeben, es war Sweta, die
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