Pink Hotel
Fast alle schliefen, nur einige
flüsterten noch im Dunkeln miteinander. Ich kletterte in mein schmales Bett in
der Ecke und faltete Davids Zettel unter einem Nachtlicht auseinander.
»Hey«, las ich blinzelnd. Die Nachricht war handgeschrieben, nicht
wie die getippten anonymen Briefe, in fast unleserlicher, jungenhafter Schrift.
David hatte den Stift fest auf das Papier gedrückt, und der Text sah wirr und
gehetzt aus. »Solange du in Los Angeles bist, kannst du ab und zu bei mir
übernachten, wenn du willst«, lautete die Botschaft. »Irgendjemand muss es ja
tun, wenn ich schon kaum dazu komme. Jedenfalls ist dieses Hostel das letzte
Drecksloch. Wusstest du, dass vorigen Monat jemand im selben Häuserblock zerstückelt
wurde? Wusstest du das? Ein Drittel der Leichenteile wurde in [175] dem Müllcontainer
vor der Apotheke gefunden, ein Drittel vor dem Schnapsladen und das letzte
Drittel in einem Mixer mit einer Tüte Blaubeeren und so einem
Powerdrink-Pulver. Morgen Abend bin ich da, wenn du vorbeikommen willst. Das
soll keine Aufforderung sein, bei mir einzuziehen, oder irgend so ein Quatsch.
Das Sofa ist frei, und ich sag nur, dass ich sowieso nie da bin. Außerdem würde
es mein Gewissen beruhigen, weil ich dich neulich so lange hab warten lassen,
bis dich wer ausgeraubt hat. Also bis morgen Abend, wenn du magst. Gruß, David.«
[176] 20
In der Nacht hatte ich einen Alptraum. Ich träumte, dass
ich mich nicht bewegen konnte. Bei jedem Atemzug fiel ich in eine Ohnmacht, und
immer, wenn ich daraus erwachte, befand ich mich wieder an derselben Stelle.
Diesen Traum hatte ich öfter. Es begann zwei Wochen vor Lilys Tod in London, an
dem Tag, als ich von der Schule flog und Dad daraufhin nicht mehr richtig mit
mir redete. Einer der beliebtesten Plätze in der Schule war bei schönem Wetter
die Feuerleiter vor den Klos im neunten Stock. Die Wände waren erbsengrün
gefliest, so dass jedes Gesicht schimmerte wie in einem Horrorfilm. Waschbecken
hingen in einer Reihe, darüber ein langer Spiegel, pockennarbig von Rost. Durch
das Fenster mit der Milchglasscheibe konnte man nach draußen steigen, um sich
zu den anderen auf die Feuerleiter zu hocken und zu rauchen, ohne von den
Lehrern gesehen zu werden. Dazu hätten sie um das Schulgebäude herumgehen
müssen, was nie vorkam, weil dort alles zugewachsen und schmutzig war. Außerdem
konnte man die einsame dicke Frau gegenüber beobachten, die den ganzen Tag
Fernsehen schaute, und den Bodybuilder, der im Fenster direkt über ihr endlos
Liegestütze machte. Alle fanden, die beiden müssten sich ineinander [177] verlieben.
Die ganze Zeit war dann von der Feuertreppe das überdrehte, tränenerstickte
Gelächter von Teenies zu hören.
Als wir kleiner waren, hatten meine Freundin Mary und ich ab und zu
mit ein paar anderen Kindern aus meiner alten Schule ein Spiel gespielt. Dabei
drückten wir einander so lange auf bestimmte Punkte im Halsbereich, bis die
andere schwindlig wurde und in Ohnmacht fiel. Wenn man jemandem Zeige- und Mittelfinger
an beiden Seiten des Halses auf die Schlagadern presst, die dort verlaufen,
wird derjenige etwa zwanzig Sekunden lang ohnmächtig. Es fühlt sich irgendwie
komisch an, ein bisschen, wie wenn einem schlecht wird, aber wir machten es
immer nur ein paarmal hintereinander, und es gab deswegen nie Ärger.
Irgendwann während einer Mittagspause hörte ich, wie sich ein paar
Mädchen, die sich auf der Toilette schminkten, genau darüber unterhielten. Sie
fragten mich, ob ich wüsste, wie man absichtlich in Ohnmacht fällt, und ich tat
nichts weiter, als es ihnen zu erklären. Eine von ihnen musste besonders
beliebt gewesen sein, denn binnen einer Woche waren alle Mädchen aus den
Klassen unter mir damit beschäftigt, sich in Klassenzimmern, den Toiletten, im
Musikzimmer, in den Umkleideräumen und auf den Fluren gegenseitig in Ohnmacht
zu versetzen. Sie kauerten an den Wänden oder schoben Tische zusammen, um
Liegen zu schaffen. Es wurde ein viel größeres Ding daraus, als es je an meiner
alten Schule gewesen war; während einer Mathestunde fielen fünf Mädchen in
Ohnmacht, eins davon wachte erst nach [178] zwanzig Minuten wieder auf. Die
Lehrerin dachte, sie würde schlafen. Das ist etwas, was alle Mädchenschulen
gemeinsam haben: Fixe Ideen verbreiten sich wie Lauffeuer. Ein anderes Mädchen
blutete im Sportunterricht sogar aus einem Ohr. Richtig schlimm wurde es aber,
als ein paar von ihnen auf die Idee kamen, einander auf der
Weitere Kostenlose Bücher