Pink Hotel
nach ihm fragte, sagte die
Schwester, ihres Wissens habe mich kein David besucht. Die anderen Mitglieder
der Filmcrew waren zwei Tage zuvor aus der Klinik entlassen worden. Bei mir
hatte es »Komplikationen« gegeben. Die Schwester erklärte mir, ich hätte leider
»den Fötus verloren« – ich weiß nicht, warum mich das zum Lachen brachte. Die
Luft roch nach Desinfektionsmitteln. Schließlich nickte ich ernst, verdutzt und
stolz zugleich, runzelte die Stirn und tat, als sei ich mit der Existenz eines
Fötus wenigstens ansatzweise vertraut. Er war erst wenige Wochen alt gewesen,
also noch kaum vorhanden, dennoch kam die Übelkeit wieder. Die Schwester
erzählte mir auch, mein Freund Sam werde mich später am Nachmittag besuchen und
dass er sich große Sorgen mache. Man nahm an, Sam sei der Vater dieses
Hohlraums in meinem Bauch.
Es war sowieso unwichtig. Ich zerbrach mir nicht den Kopf, was
vielleicht geschehen wäre oder hätte [288] geschehen können oder was ich getan
hätte, wenn nicht das Adderall und die Lebensmittelvergiftung
dazwischengekommen wären. »Der« Fötus existierte nur für einen
Sekundenbruchteil, nachdem die Schwester mir von seinem Tod erzählt hatte, denn
erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass er überhaupt lebendig gewesen
war. Ich teilte das Krankenzimmer mit einer reizenden alten Dame, die gerade
einen Schlaganfall erlitten hatte. Sie streckte mir immer wieder die Zunge raus
und erzählte mir den Anfang eines Witzes, in dem es darum ging, wie viele
jüdische Großmütter man brauchte, um eine Glühbirne in die Fassung zu drehen,
doch ihr fiel die Pointe nicht ein. Sie wirkte schrecklich verwirrt, und ich hätte
am liebsten Dad angerufen, wusste aber nicht, was ich ihm sagen sollte.
Vielleicht, dass mir auf einmal klargeworden sei, dass er sein Bestes gegeben
hatte und gescheitert war. Dass ich mich intensiver hätte bemühen sollen, in
der Schule nicht in Schwierigkeiten zu geraten, und dass ich nicht zurückkäme.
Ich nahm Lilys Umhängetasche aus Wildleder und verließ gleich
frühmorgens das Krankenhaus, ohne Sams Besuch abzuwarten. Ich fuhr mit dem Bus
zurück zu Davids Apartment. Es wurde gerade hell, als ich unbeholfen und
hektisch den Schlüssel in das Tor der Wohnanlage steckte und es aufstieß. Ich ging
nach oben. »Zerbrochener Vogel«, hatte David einmal gesagt, während er meine
Schulterblätter küsste, die wie zwei kaputte Flügel von meinem Rücken
abstanden. Am liebsten hatte ich ihn morgens, wenn er mürrisch und ungeschickt
war. Ich mochte auch die Augenblicke, in denen er [289] hilflos war, genau wie er
bei mir. Ich liebte ihn, wenn er sich die Finger verbrannte, Kaffee über den
Wirtschaftsteil der New York Times kippte, sich den
Kopf stieß oder vergaß, den Kühlschrank zu schließen. In diesen lebendigen
Momenten verschmolz seine Vergangenheit mit seiner Gegenwart, bekam ich kurze
Einblicke, wie er als Kind oder linkischer Jugendlicher gewesen sein mochte. Am
meisten liebte ich David dann, wenn ich so tat, als merkte ich nicht, wie er
Cornflakes auf den Boden fallen ließ, seine Autoschlüssel verlor und auf der
Suche danach den Wäschekorb nach seiner Hose vom Vortag durchwühlte. Vielleicht
funktioniert Liebe ja so – Banalitäten, die erst durch Liebe zu etwas
Besonderem werden. Eines Nachts, als wir verschwitzt im Bett lagen, las er mir
mit sonorer und pathetischer Stimme den Anfang von Miltons Das
verlorene Paradies vor. Da gibt es eine Stelle, wo Satan gerade aus dem
Himmel in die Hölle gefallen ist und wo geschildert wird, er sehe sich mit
»düstern Augen« an dem verkommenen Ort um, an dem er gelandet ist. Für mich
klang »düstern« irgendwie nach anklagend oder gramerfüllt, als hätte der
gefallene Engel melancholische, aber gleichzeitig lauernde Augen gehabt. Eine
Zeitlang, nachdem David mir diese Stelle vorgelesen hatte, dachte ich, auch er
blicke aus »düstern Augen«, genau wie Satan, besonders morgens, wenn er sich
mit einer kaputten Glühbirne oder einer verbrannten Toastscheibe konfrontiert
sah. Doch dann las ich mir die Formulierung noch mal im Zusammenhang durch, und
»düster« bedeutete dort so viel wie »feindselig« oder »bedrohlich«.
Als ich oben auf dem Treppenabsatz stand, fiel mir [290] auf, dass an
dem Fenster von Davids Wohnung, das mit Blick auf den Gang, etwas anders war.
Noch ehe ich die Tür öffnete, sah ich durch das Glas, dass das Apartment leer
war. Das Sofa, der Couchtisch, dessen Platte er zweimal
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