Pippi Langstrumpf
Eine Krankenschwester öffnete.
„Ist der Herr Doktor da?“ fragte Pippi. „Es ist ein sehr ernster Fall, eine kolossal schwere Krankheit.“
„Bitte sehr, durch diese Tür hier“, sagte die
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Krankenschwester.
Der Doktor saß an seinem Schreibtisch, als die Kinder hereinkamen. Pippi ging direkt zu ihm hin, machte die Augen zu und streckte die Zunge heraus.
„Was fehlt dir denn?“ fragte der Doktor.
Pippi schlug ihre klaren blauen Augen wieder auf und nahm die Zunge wieder in den Mund.
„Ich fürchte, daß ich Spunk bekommen habe“, sagte sie.
„Denn es juckt mich am ganzen Körper. Und die Augen fallen mir vollständig zu, wenn ich schlafe. Mitunter habe ich Schluckauf. Und Sonntag ging es mir gar nicht gut, nachdem ich einen Teller Schuhkrem mit Milch gegessen hatte. Ich habe sehr guten Appetit, aber ich bekomme so oft das Essen in die falsche Kehle, und da nutzt es einem nicht viel. Ich muß wohl Spunk bekommen haben. Sagen Sie mir bloß: Ist es ansteckend?“
Der Doktor schaute in Pippis gesundes kleines Gesicht, und dann sagte er:
„Ich glaube, es geht dir besser als den meisten anderen. Ich bin sicher, daß du nicht an Spunk leidest.“
Pippi faßte ihn voller Eifer am Arm.
„Aber es gibt also eine Krankheit, die so heißt, ja?“
„Nein“, sagte der Doktor, „die gibt es nicht. Aber wenn es sie gäbe, so glaube ich nicht, daß sie dich angreifen würde.“
Pippi sah düster aus. Sie machte einen tiefen Knicks vor dem Doktor, und das tat Annika auch. Thomas machte eine Verbeugung. Und sie gingen zu dem Pferd, das am Zaun vor dem Hause wartete.
Nicht weit davon stand ein hohes, dreistöckiges Haus. Ein Fenster im obersten Stockwerk war offen. Pippi zeigte hinauf und sagte:
„Es sollte mich nicht wundern, wenn der Spunk da oben ist.
Ich klettere rauf und sehe nach.“
Mit raschen Griffen kletterte sie an der Regenrinne hoch. Als 216
sie in die gleiche Höhe mit dem Fenster gekommen war, warf sie sich ohne Besinnen in die Luft und ergriff das Fensterblech.
Sie zog sich hoch und steckte den Kopf durch das offene Fenster.
Im Zimmer saßen zwei Damen am Fenster und unterhielten sich. Kein Wunder, daß sie erstaunt waren, als ein roter Kopf plötzlich über dem Fensterbrett zum Vorschein kam und eine Stimme höflich sagte:
„Ich möchte gern wissen, ob ein Spunk hier drinnen ist.“
Die beiden Damen fingen vor Schreck an zu schreien.
„Gott bewahre, was sagst du, Kind? Ist es einer, der sich losgerissen hat?“
„Das ist gerade das, was ich wissen möchte“, sagte Pippi.
„Oh, vielleicht ist er unter dem Bett“, schrie die eine der Damen. „Beißt er?“
„Ich glaube es beinah“, sagte Pippi. „Es scheint, als ob er prächtige Hauzähne hätte.“
Die beiden Damen klammerten sich aneinander fest. Pippi schaute sich interessiert um, aber schließlich sagte sie wehmütig:
„Nein, hier ist nicht mal so viel wie ein Schnurrhaar von einem Spunk. Verzeihung, daß ich gestört habe! Ich wollte bloß mal nachfragen, da ich zufällig vorbeiging.“
Sie ließ sich wieder an der Dachrinne hinunter.
„Traurig“, sagte sie zu Thomas und Annika. „Es gibt keinen Spunk in dieser Stadt. Wir reiten wieder nach Hause.“
Und das taten sie. Als sie vor der Veranda vom Pferd heruntersprangen, fehlte nicht viel, daß Thomas auf einen kleinen Käfer getreten hätte, der auf dem Sandweg entlangkroch.
„Oh, Vorsicht, ein Käfer!“ rief Pippi.
Sie hockten sich alle drei hin, um ihn zu betrachten. Er war so klein. Die Flügel waren grün und glänzten wie Metall.
„So ein hübscher kleiner Käfer“, sagte Annika. „Ich möchte 217
wissen, was es für einer ist.“
„Ein Maikäfer ist es nicht“, sagte Thomas.
„Und auch kein Mistkäfer“, sagte Annika. „Und auch kein Hirschkäfer. Was das wohl für einer ist?“
Über Pippis Gesicht verbreitete sich ein seliges Lächeln.
„Ich weiß es“, sagte sie. „Es ist ein Spunk.“
„Bist du ganz sicher?“ fragte Thomas.
„Glaubst du nicht, daß ich einen Spunk erkenne, wenn ich ihn sehe?“ sagte Pippi. „Hast du jemals in deinem Leben etwas so Spunkartiges gesehen?“
Sie brachte den Käfer vorsichtig an eine sichere Stelle, wo niemand auf ihn treten konnte.
„Mein kleiner, lieber Spunk“, sagte sie zärtlich. „Ich wußte ja, daß ich schließlich doch einen finden würde. Aber komisch ist es doch. Wir sind in der ganzen Stadt umhergejagt, um einen Spunk zu finden, und dann haben wir ihn direkt vor
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