Pippi Langstrumpf
hätte glauben können, es wäre ein Unglück geschehen. Und denkt bloß, einmal war sie mit Vater zum Ball, und sie tanzten Hambo. Vater war sehr stark, und plötzlich schleuderte er Großmutter so weit weg, daß sie quer über den Ballsaal flog und mitten in der Baßgeige landete. Und – wupps – fing sie 207
wieder an zu schreien und zu toben. Da hob Vater sie auf und hielt sie an seinem ausgestreckten Arm durch das Fenster im vierten Stock, nur damit sie sich etwas beruhigen und nicht mehr so nervös sein sollte. Aber gar nicht daran zu denken!
,Laß mich sofort los!‘ schrie sie. Und das tat Vater dann natürlich. Und kann man sich vorstellen – das war auch wieder nicht richtig! Und Vater sagte, er hätte niemals so etwas von einer alten Frau gesehen, die sich wegen Kleinigkeiten so aufrege. Ach ja, es ist schwer mit Leuten, die schlechte Nerven haben“, sagte Pippi mitleidig und tauchte einen neuen Zwieback ein.
Thomas und Annika drehten sich unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Tante Laura schüttelte den Kopf, und Frau Settergren beeilte sich zu sagen:
„Wir wollen hoffen, daß es dir bald wieder besser geht, Tante Laura.“
„O ja, das glaube ich sicher“, sagte Pippi tröstend.
„Großmutter ging es auch bald besser. Sie wurde frisch und munter. Denn sie hat Beruhigungsmittel genommen.“
„Was waren das für Beruhigungsmittel?“ fragte Tante Laura interessiert.
„Fuchsgift“, sagte Pippi. „Einen gestrichenen Eßlöffel Fuchsgift. Das war entscheidend, kann man wohl sagen. Nach dieser Kur saß sie fünf Tage lang still und sagte kein einziges Wort. Still wie eine Milchsatte. Ganz einfach vollkommen gesund! Kein Gespringe und Geschrei mehr! Es konnten ihr Ziegelsteine auf den Kopf fallen, immer nur fallen, immer nur fallen – – sie saß bloß da und fühlte sich großartig. Also du wirst sicher wieder gesund, Tante Laura. Denn – wie gesagt –
Großmutter ist es ja auch geworden.“
Thomas hatte sich zu Tante Laura hingeschlichen und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
„Kümmere dich nicht darum, Tante Laura. Das denkt sie sich nur aus. Sie hat gar keine Großmutter.“
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Tante Laura nickte verständnisvoll. Aber Pippi hatte gute Ohren, und sie hatte gehört, was Thomas geflüstert hatte.
„Thomas hat ganz recht“, sagte sie. „Ich habe keine Großmutter. Sie existiert einfach nicht. Und warum brauchte sie da so furchtbar nervös zu sein?“
Tante Laura wandte sich an Frau Settergren.
„Weißt du, gestern habe ich etwas so Merkwürdiges erlebt
…“
„Aber das kann bestimmt nicht so merkwürdig gewesen sein wie das, was ich vorgestern erlebt habe“, versicherte Pippi.
„Ich fuhr mit dem Zug, und als der Zug in voller Fahrt war, kam eine Kuh durch das offene Fenster geflogen, und am Schwanz hatte sie einen großen Reisekoffer hängen. Sie setzte sich auf die Bank mir gegenüber und fing an, im Fahrplan zu blättern, um nachzusehen, wann wir in Fallköping ankommen.
Ich war gerade dabei, meine Butterbrote zu essen – ich hatte eine Menge Butterbrote mit Hering und Wurst drauf – , und ich dachte, sie hätte vielleicht Hunger, und da bot ich ihr eins an.
Und da nahm sie ein Brot mit Hering und aß es auf.“
Pippi verstummte.
„Das war wirklich merkwürdig“, sagte Tante Laura freundlich.
„Ja, so was Merkwürdiges von einer Kuh kann man lange suchen“, sagte Pippi. „Kann man sich vorstellen, daß sie ein Brot mit Hering nahm, wo ich doch genug Wurstbrote hatte!“
Frau Settergren und Tante Laura tranken mehr Kaffee, und die Kinder tranken mehr Saft.
„Ja, was ich eben erzählen wollte, als unsere kleine Freundin hier mich unterbrochen hat“, sagte Tante Laura, „das war von einem komischen Zusammentreffen gestern …“
„Wenn von komischen Zusammentreffen die Rede ist, dann wird es dich sicher amüsieren, die Sache von Agaton und Theodor zu hören. Eines Tages, als Vaters Schiff nach Singapore kam, brauchten wir einen neuen Matrosen an Bord.
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Und da bekamen wir Agaton. Agaton war zweieinhalb Meter lang und so mager, daß, wenn er angegangen kam, seine Knochen rasselten wie der Schwanz einer wütenden Klapperschlange. Rabenschwarzes Haar hatte er, das ihm bis zum Gürtel reichte, und nur einen einzigen Stachel im Mund.
Aber der war dafür um so größer, denn er reichte ihm bis unters Kinn. Vater meinte ja, daß Agaton zu häßlich wäre, und er wollte ihn erst nicht an Bord nehmen, aber dann sagte er, daß man ihn ganz gut
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