Piratenbraut
»Auswüchse der parlamentarischen Demokratie« – und ein Beleg dafür, wie wichtig die Piraten seien für unser Land. Nun erlebe ich auf meiner ersten Parteiversammlung der Piraten: Streitereien um Parteitaktik und Personen statt inhaltlicher Diskussionen.
In der Raucherpause nach den ersten zwei Stunden und 43 Minuten stehe ich auf dem Gehweg vor dem Klubheim und denke: Basisdemokratie ist ganz schön anstrengend, wenn man nicht einfach daheim am Computer mit einem Klick das Browserfenster schließen kann.
Ich muss an die sarkastischen Bemerkungen denken, die meine Eltern gerne mal über ihre Zeit bei den Grünen Ende der Siebzigerjahre machten. Ja, meine Eltern hatten mich gewarnt: Überleg dir gut, ob Parteiarbeit was für dich ist! Aber wer will sich schon von pensionierten Beamten politisch coachen lassen?
Meine Eltern waren ungefähr so alt wie ich heute, als sie in der hessischen Provinz der neuen Ortsgruppe der »Grünen Aktion Zukunft« beitraten, einer Vorläuferorganisation der Grünen. Zwei idealistische, naturverbundene Lehrer, von der Vision beflügelt, gemeinsam mit anderen den Planeten zu retten. Nach nur einem Jahr hatten beide genug von der aktiven Parteipolitik. Über die Gründe habe ich nie mit meinen Eltern gesprochen. Vielleicht sollte ich das schleunigst nachholen?
Aber erst mal muss ich wieder nach drinnen auf meinen unbequemen Holzstuhl. Nach der Pause berät die Parteibasis nämlich einen Antrag zu der seit Monaten ergebnislos diskutierten Fraktionssatzung. Es geht um die Frage, welche Mitspracherechte die örtliche Piratenfraktion ihren Bürgerdeputierten einräumen soll, also Menschen mit Sachverstand und Zeit, die sie ehrenamtlich bei der Arbeit in der Bezirksverordnetenversammlung unterstützen.
Die Liste der Wortmeldungen ist lang, sehr lang. Und langsam beginne ich, der mangelhaften Basisbeteiligung bei diesem lokalen Piratenparteitag auch positive Seiten abzugewinnen: Man stelle sich vor, es hätten sich heute statt der 32 Piraten 64 oder gar 128 ins Vereinsheim aufgemacht! Um wie viel länger dann die Debatten geworden wären ... Ich bin unschlüssig, ob ich den Anwesenden eher Respekt zollen oder sie bemitleiden soll. Wer freiwillig eine solche Gebietsversammlung durchsteht, der muss seine Partei sehr lieben. Oder komplett schmerzfrei sein.
Ich bin neu, ich begreife längst nicht mehr, wer gerade was mit welchem Einwurf oder Alternativvorschlag bezwecken will. Die Debatten kommen mir endlos vor, obwohl die Redezeit pro Wortmeldung bereits auf zwei Minuten begrenzt wurde. Soll ich mir auch eine Bockwurst am Tresen holen? Es geht inzwischen schon auf halb sieben zu. Und eigentlich wollten die Piraten heute doch auch noch die lokale Version ihrer Demokratiesoftware Liquid Feedback an den Start bringen.
Ich rechne nach. Fast vier Stunden sitze ich nun im Sportlerheim. Beschlossen ist, von ein paar Anträgen zur Geschäftsordnung abgesehen, weiterhin nur – beziehungsweise immerhin – die Tagesordnung. Ich werde langsam ungeduldig. Mein Freund ist mit Kollegen in Portugal, seine Mutter hütet in unserer Wohnung die Kinder. Die fünfjährige Cousine übernachtet bei uns. Ob das Abendessen schon auf dem Tisch steht? Hat das Baby schon seinen Brei bekommen? Sollte ich nicht langsam nach Hause fahren? Ich hatte die Ausdauer der Parteibasis völlig unterschätzt.
»Was meinst du, wann das hier zu Ende ist? Um Mitternacht?«, frage ich einen Piraten aus meiner Crew, der am Nachbartisch sitzt. Er schüttelt den Kopf: »Ich fürchte, wir werden gar nicht fertig.« Ich müsse leider weg, raune ich ihm zu, die Kinder ins Bett bringen. Der Pirat schaut verständnisvoll. »Ich hoffe, du kommst überhaupt noch mal wieder ...«
Draußen ziehe ich mein Smartphone aus der Jackentasche, rufe meine Eltern an und erzähle ihnen von der Gebietsversammlung. Das Thema amüsiert meinen Vater. Er versucht sich zu erinnern, in welchem Jahr seine kurze, erfolglose Karriere als Grüner begann. Irgendwann fällt ihm ein: Die Wahlplakate habe er ja damals noch in unserem ersten Renault herumgefahren. »Der R 4 war sogar grün lackiert! Weißt du das noch? Das muss vor 1980 gewesen sein. Vermutlich 78.« Er klingt nostalgisch. Jetzt schmunzele ich auch. Darauf muss erst mal jemand kommen: den Zeitpunkt seines Engagements bei den Grünen anhand des Autos rekonstruieren, das er damals fuhr. Und ausgerechnet mein Vater, der doch bis heute sogar die neue Stereoanlage am liebsten im Fahrradkorb nach Hause
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