Piratenbraut
transportiert.
»Papa wurde da mit seinen Idealen regelrecht an den Rand gedrängt«, ruft meine Mutter aus dem Hintergrund. Ja, bestätigt mein Vater, er habe die ganzen Streitereien einfach nicht abfangen können: »Mich hat das viel zu sehr aufgeregt. Für die Parteiarbeit war ich nicht geeignet.« Dann erzählt er von den zähen, ergebnislosen Diskussionen im Café Schiffner hinter der Post in meiner hessischen Heimatstadt. Und von den Machtkämpfen in der jungen Partei. Die Erlebnisse meiner Eltern liegen fast 35 Jahre zurück, damals tippte man Parteianträge auf der Schreibmaschine. Dennoch klingen die Anekdoten erstaunlich aktuell.
Der erste Bezirksparteitag sei von unzähligen Anträgen zur Geschäftsordnung überschattet gewesen, erinnert sich mein Vater. »Und dermaßen langatmig!« Einige Grüne seien ja von Anfang an nur auf eine Karriere aus gewesen, außerdem hätten die Exzentriker unglaublich genervt. »Einer«, ruft mein Vater, »hat sogar mal einen Stuhl geworfen – im Café Schiffner!« Er lacht.
Und ich frage mich, wie lange es wohl bei mir dauern wird, bis ich das, was ich heute erlebt habe, lustig finden kann.
7 »9.30 Uhr am Kanzleramt. Mit Schnuller!«
7 »9.30 Uhr am Kanzleramt. Mit Schnuller!«
Wie ich mich beim Protest gegen die Bundesregierung fast vor der Republik blamiere
Die letzten Worte des nächtlichen Aufrufs zur Spontandemo klangen für mich wie ein Scherz. »Berliner Piraten, ab ins Bett! Morgen früh ist Flashmob gegen das Betreuungsgeld! 9:30 Kanzleramt«, hatte eine Piratin gestern kurz nach Mitternacht getwittert und ergänzt: »Mit Schnuller!«
Knapp zehn Stunden später stehe ich auf dem Vorplatz des Kanzleramts und kann es kaum glauben. Neben mir demonstriert eine zierliche Frau um die dreißig, sie trägt Jeans und Lederjacke, große Kopfhörer lässig um den Hals gelegt, in den Händen die Stange einer orangefarbenen Piratenpartei-Flagge und im Mund: einen Schnuller. Offensichtlich verstehe ich von aktiver Parteipolitik noch nicht ganz so viel, wie ich gedacht hätte.
Noch vor einer halben Stunde in der S-Bahn auf dem Weg zur Spontandemo gegen das von der Bundesregierung geplante Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder nicht in die Kita schicken, hatte ich mich richtig gut gefühlt: Gestern Nacht die Ankündigung auf Twitter entdeckt, heute früh schon unterwegs zum Kanzleramt! Ich würde den anderen Piraten nicht mehr nur bei politischen Aktionen zuschauen, sondern selbst mitmachen. Und könnte es einen besseren Anlass geben als dieses von der schwarz-gelben Bundesregierung geplante aberwitzige Geldgeschenk für Hausfrauen? In der Kita meiner Kinder kommen auf siebzehn Kinder unter drei Jahren zwei bis drei beschämend schlecht bezahlte Erzieher – aber das Kabinett setzt eine symbolische Hausfrauenprämie auf die Tagesordnung! Beim Gedanken daran stand ich ohnehin schon vor dem Kanzleramt.
Dabei bin ich eigentlich nicht so der Demo-Typ. Mein letzter öffentlicher Protest liegt, wenn ich mich richtig erinnere, anderthalb Jahre zurück. Damals schob ich mich mit 100.000 anderen Menschen durch das Regierungsviertel und demonstrierte gegen den Beschluss der Merkel-Regierung, die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke zu verlängern. Die Stimmung war prächtig, der Himmel voller Luftballons, alle trugen gelbe »Atomkraft? Nein danke«-Buttons. Es fühlte sich großartig an, mit dabei zu sein. Und als Merkel ein paar Monate später nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima einknickte, war das wie eine späte Belohnung.
So ähnlich hatte ich mir auch die Protestaktion gegen das Betreuungsgeld vorgestellt. Kleiner natürlich, aber trotzdem beflügelnd. Schließlich lud auch diesmal ein breites Oppositionsbündnis ein: Jusos, Grüne, Linke, Gewerkschafter – und eben die Piratenpartei.
Nun stehe ich vor dem Kanzleramt und schaue mich um. Vielleicht fünfzig Leute sind gekommen, kaum mehr als in einen Reisebus passen, und fast nur Frauen. Die Nachrichtenagenturen vermelden bereits um kurz vor 10 Uhr, Angela Merkel habe mit ihrem Kabinett drinnen im Kanzleramt die umstrittene »Herdprämie« auf den Weg gebracht. Und es ist mehr als wahrscheinlich, dass sie für so ein armseliges Grüppchen unten auf dem Vorplatz vorher noch nicht einmal aus dem Fenster geschaut hat.
Dabei hätte die Kanzlerin durchaus etwas zu gucken gehabt. Ich jedenfalls habe das Gefühl, ich sei in eine Kostümveranstaltung geraten. Die Demonstrantinnen wedeln nicht nur mit SPD - und
Weitere Kostenlose Bücher