Piratenbraut
mich erwartungsfroh um.
Im Themenfeld Innen- und Rechtspolitik stieß ich an oberster Stelle auf die Initiative »Großkalibrige halbautomatische und automatische Waffen sind kein Sportgerät«. Der Vorstoß gefiel mir spontan, da brauchte ich nicht einmal die Begründung durchzulesen. Klick, schon hatte ich der Initiative meine Unterstützung erteilt – schließlich müssen zehn Prozent aller Piraten, die für ein Themenfeld registriert sind, eine Reformidee unterstützen. Ohne dieses Quorum werden Initiativen gar nicht erst zur Abstimmung zugelassen.
Ich surfte weiter – und begann zu staunen. Die Anti-Großkaliber-Initiative schien in ihrer schlichten Schönheit die Ausnahme zu sein. Vor mir auf dem Monitor reihten sich jetzt Initiativen, zu deren Inhalt ich am liebsten erst einmal ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags angefordert hätte. Sollte ich die »unbeschränkte Einkommenssteuerpflicht auch für im Ausland lebende Deutsche« befürworten? Würde ich ein »Initiativrecht für das EU -Parlament« oder eine »Direktwahl des EU -Präsidenten« unterstützen? Und wie wollte ich es mit dem »Abbau der degressiven Proportionalität im EU -Parlament« halten?
Da ich weder Zeit noch Lust hatte, mich in meiner Freizeit eben mal in die Debatte um die EU -Parlamentsreform oder in das europaweite Einkommenssteuerrecht einzuarbeiten, lautete meine Antwort in allen Fällen: Keine Ahnung. Ich hielt das zunächst nicht wirklich für ein Drama. Mit diesem Eingeständnis war ich bei den Piraten ja in bester Gesellschaft. Schließlich hatten einige prominente Parteimitglieder in Talkshows mit ihrem selbstbewussten Bekenntnis zur Ahnungslosigkeit sogar Sympathiepunkte gesammelt. Andererseits: Liquid Feedback ist keine Talkrunde. Bei Liquid Feedback sind Entscheidungen gefragt.
Ich redete mir Mut zu: Von den gegenwärtig 620 Abgeordneten des Bundestags hätten die meisten vermutlich spontan auch keine klugen Argumente für oder gegen all diese anspruchsvollen Initiativen parat. Und wenn das Parlament über Gesetzentwürfe entscheidet, spielen bekanntlich selten nur Fakten eine Rolle – häufig aber Parteiinteressen, politische Befindlichkeiten, offene Rechnungen oder die Fraktionsdisziplin.
Es half nicht wirklich.
Vielleicht sollte ich es beruhigend finden, dass es vielen der gut 9.000 Liquid-Feedback-Teilnehmer aus der Piratenpartei wie mir gehen dürfte. Dass die wenigsten wirklich kompetent über den »Abbau der degressiven Proportionalität im EU -Parlament« urteilen könnten. Wem wäre mit dieser Einsicht geholfen? Stimmten bei Liquid Feedback womöglich vor allem jene ab, die sich ihrer Inkompetenz nicht bewusst waren? Eine gruselige Vorstellung. Wir durften Liquid Feedback doch nicht den Idioten überlassen!
Tapfer nahm ich mir die nächstbeste Liquid-Feedback-Initiative vor. Ihr Ziel – das Strafgesetzbuch um einen § 339a zu ergänzen: »Wer in den Fällen des § 339 fahrlässig handelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« Ich wusste nicht einmal, was in § 339 steht. Aber immerhin, das schrieb der Antragsteller in seiner Begründung: »§ 339 regelt die Rechtsbeugung. Diese Rechtsbeugung ist ein Vorsatzdelikt – dem Täter müssen also Wissen und Wollen nachgewiesen werden.«
Es folgte ein längerer Ausflug zu den Schattenseiten unseres Rechtsstaats: Richter und Polizeibeamte kämen »prinzipiell straffrei« aus unrechtmäßigen Hausdurchsuchungen oder Blutentnahmen heraus. Dank des neuen Paragrafen sollten die Opfer solcher Grundrechtseingriffe eine »substanzielle Möglichkeit« bekommen, gegen »unrechtmäßiges Verhalten zum Beispiel von Richtern« vorzugehen. Das Anliegen erschien mir nicht abwegig – und machte mich doch skeptisch. Fahrlässige Rechtsbeugung, sollte ich das gutheißen?
Umso mehr erstaunte mich, dass die Initiative im Liquid Feedback bereits die erste Hürde genommen hatte. Mehr als zehn Prozent aller Piraten, die für das Themenfeld Rechtspolitik registriert waren, hatten diese Reformidee unterstützt. Es gab sogar sechs konkrete Verbesserungsvorschläge zu dem Vorhaben. Der erste Kritiker schlug vor, im Strafrecht sollte »nur grobe Fahrlässigkeit straftatsrelevant sein«, und warnte vor den Folgen der Reform für richterliche Eilentscheidungen. Ein anderer Kritiker regte an, man könne »alternative Maximalstrafen einführen«, allerdings wären hier »Juristen o. ä. gefragt, ob das sinnvoll wäre«. Ach
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