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Piratenbraut

Piratenbraut

Titel: Piratenbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Geisler
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ein bisschen im Internet nach und stellte fest: Es stimmte. In einem Grundlagentext über die Liquid Democracy schreibt Andreas Nitzsche, einer der Entwickler von Liquid Feedback: Da niemand genug Zeit und Wissen habe, um alle Fragen selbst zu entscheiden, sehe die »Liquid Democracy eine übertragbare, themenspezifische Delegation des Stimmrechts an beliebige andere Personen vor«. Die Liquid Democracy erhebe diese Möglichkeit der Stimmendelegation sogar »zum Prinzip«. Man gebe seine Stimme an eine Person weiter, der man grundsätzlich oder zumindest in einer Sachfrage die Vertretung seiner Interessen zutraue – oder wenigstens die Entscheidung überlassen wolle, wer die konkrete Frage am besten beantworten könne.
    Nach Ansicht des Liquid-Feedback-Erfinders ergibt sich in der Liquid Democracy deshalb automatisch ein »fließender Übergang zwischen direkter und repräsentativer Demokratie«. Jeder Teilnehmer könne für sich entscheiden, wie er beide Systeme mischen wolle – und zwar bei jedem einzelnen Thema neu.
    Nun sitze ich am Computer und ringe mit mir selbst. Die Sache mit den Delegationen ist mir irgendwie suspekt. Natürlich: Die Stimmweitergabe ist wunderbar flexibel und transparent geregelt. Ich muss meine Stimme nicht für vier Jahre abgeben, wie bei einer Bundestagswahl, sondern darf sie mir zurückholen, wann immer ich möchte. Sobald ich bei Liquid Feedback doch an irgendeiner Abstimmung teilnehmen will, ist die Delegation durchbrochen. Wenn mir danach ist, kann ich mein Stimmrecht auch mehrmals täglich neu verteilen.
    Nur: Wer in dieser Partei denkt wohl so ähnlich wie ich und würde in meinem Sinne votieren? Denis, der sympathische Kapitän der Crew Prometheus? Ralf, unser meinungsstarker Bezirksverordneter? Johannes Ponader, der medial omnipräsente Politische Geschäftsführer der Piraten? Oder vielleicht niemand?
    Ich bin neu. Ich weiß wenig über die politischen Ansichten von Denis oder Ralf. Und selbst wenn ich beide richtig gut kennen würde: Könnten Denis oder Ralf oder Johannes Ponader deshalb besser als ich beurteilen, ob das Strafgesetzbuch um einen §339a ergänzt werden sollte? Oder wären sie ähnlich ahnungslos wie ich?
    Ich stöbere im Liquid Feedback, das Grundsatzpapier des Liquid-Feedback-Entwicklers hat mich neugierig gemacht: Ob die Piraten wirklich ihre Stimmen weiterreichen?
    Und tatsächlich: Fast alle Piraten, die ich bisher kenne, nutzen die Möglichkeit. Der eine delegiert sein Stimmrecht komplett an einen bekannten Piraten aus dem Berliner Abgeordnetenhaus. Und weil auch der Abgeordnete eine sogenannte Globaldelegation eingerichtet hat und der Empfänger dieser Delegation ebenfalls seine Stimmrechte weiterreicht, sehe ich die Stimmen vor meinem inneren Auge bereits durchs Liquid Feedback flitzen wie Datenpakete durchs Internet. Der Kreativität scheinen kaum Grenzen gesetzt: Wenn Ernie an Bert delegiert – delegiert Bert halt an Ernie.
    Oder an Martin Haase. Haase, ein internetbegeisterter Linguistikprofessor und Pirat ohne Parteiamt oder Mandat, versammelt derzeit mehr als 200 Stimmen auf sich. Der Spiegel erklärte ihn deshalb zum »wohl mächtigsten Piraten«. Das mag übertrieben sein. Aber bei dem einen oder anderen Thema kann Haase mit seinen vielen Huckepack-Stimmen schon mal den Ausgang der Abstimmung entscheiden. Und weil das so ist, kommt es vor, dass ein Pirat dienstags vor dem »Kinski« herumsitzt, wo sich die Berliner Piraten zum Stammtisch treffen, und Martin Haase abfangen will, um ihn von seiner Liquid-Feedback-Initiative wissen zu lassen. Schließlich geht mit Haase vieles in der Demokratiesoftware, ohne ihn manchmal nichts.
    Das alles ist grundsätzlich nachvollziehbar geregelt. Doch je länger ich mich durch die Delegationslisten klicke, desto weniger steige ich noch durch, wer in dieser Partei eigentlich für wen über was entscheidet – und dabei welchen Einfluss hat. Wenn ich Martin Haase meine Stimme gäbe, würde er dann im Zweifelsfall wirklich selbst für mich entscheiden? Oder am Ende jemand ganz anderes? Und wenn ja, woher soll ich wissen, ob ich dieser Person wirklich meine Stimme schenken wollen würde? Weil jeder, den Martin Haase für kompetent hält, wirklich kompetent sein muss, selbst wenn er dann auch nur wieder jemanden für kompetent hält, der wiederum jemand anderen für kompetent hält? Mit Transparenz hat diese Vorstellung für mich nicht mehr besonders viel zu tun. Eher mit blindem Vertrauen. Oder mit

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