Piratenbraut
wirklich?
Womöglich wäre diese Strafrechtsreform wegweisend. Vielleicht wäre sie vorsätzlich oder wenigstens fahrlässig idiotisch. Ich konnte es nicht beurteilen, gab vorerst auf – und flüchtete in ein anderes Themenfeld.
Als Mutter zweier kleiner Kinder könnte ich in der Rubrik Familie und Bildung vielleicht von meinem Alltagswissen profitieren. Gleich die erste Initiative auf der Übersichtsseite lautete: »Informatik als Pflichtfach«. Das hätte sich die Satirezeitschrift Titanic nicht besser ausdenken können, wenn sie sich über die Piraten lustig machen wollte. Ein dicker grüner Balken neben dem Titel der Initiative signalisierte: Dieses Projekt hatte bereits scharenweise Unterstützer angelockt. Liquid Feedback, das Königreich der Nerds?
Ich überflog die anderen Initiativen: Auch die »Berücksichtigung neurobiologischer Erkenntnisse im Bildungssektor« stieß auf großes Interesse. »Maschinenschreiben als Pflichtfach« war deutlich weniger beliebt, hatte aber etwa gleich viele Unterstützer gefunden wie »Kein Maschinenschreiben als Pflichtfach«.
Beim Gedanken an die Demokratie der Zukunft hatte ich anderes vor Augen gehabt als die Frage, ob meine Kinder in der Schule eines Tages das Tippen nach dem Zehnfingersystem lernen sollten.
Siebzehn Tage ist mein Fehlstart bei Liquid Feedback nun her. Seither habe ich mich noch ein paar Mal eingeloggt, die Themenübersicht aufgerufen, quer über die Initiativen gelesen – und dann das Abstimmungsprogramm schnell wieder verlassen. Natürlich stets mit dem Vorsatz, mich beim nächsten Anlauf endlich mit viel Zeit und gutem Willen daranzusetzen. Nur: Das ist nicht passiert. Ich suche missmutig nach den Gründen. Habe ich versagt? Oder ist das Programm schuld?
Als ich einem Kollegen davon erzähle, legt er mir einen Text ans Herz. Solle ich unbedingt lesen, dann wisse ich, warum Liquid Feedback absolut überbewertet sei. Eigentlich habe ich keine Lust darauf, denn ich weiß, der Kollege hält sowieso nichts von den Piraten, genau wie Michael Spreng, ehemaliger Chefredakteur der Bild am Sonntag und Autor dieses angeblich so erhellenden Textes. Nun rufe ich den Blog-Beitrag doch auf. Er trägt den Titel »Die Mitmach-Illusion« und ist eine schwungvolle Polemik.
Spreng schreibt, die überwältigende Mehrheit der Piraten habe keine Zeit für endlose Diskussionen und Abstimmungsprozesse. »Für die meisten ist Privatleben und Beruf wichtiger und spannender als die virtuelle Welt.« Die Mitmachdemokratie werde zwar von vielen gewünscht, aber nur von wenigen genutzt. »Theorie und Praxis klaffen selten so weit auseinander wie beim Thema politische Partizipation.«
Und der Autor setzt noch einen obendrauf. Er behauptet, die Mitmachdemokratie sei eine Illusion, denn die Menschen hätten ganz andere Sorgen und Interessen. Die »Kernbotschaft« der Piraten laufe deshalb »auf Grund«.
Mindestens ebenso interessant wie der Text ist die Debatte in den Kommentaren darunter. Einer der Leser merkt an, es gebe doch bei Liquid Feedback auch die »Möglichkeit der Repräsentation«. Ein anderer bekräftigt, das System der Liquid Democracy gehe viel weiter als von Spreng beschrieben. Wer sich selbst nicht um ein Thema kümmern könne, keine Ahnung oder kein Interesse habe, der könne seine Stimme an eine Person seines Vertrauens delegieren.
Darauf erwidert Spreng, das »System der Superdelegierten« erhöhe doch nur die Intransparenz dieser Software und bedeute, »dass sich an den Diskussionen und Abstimmungen in Wirklichkeit noch weniger Menschen beteiligen«. Außerdem ergebe sich der »Juso-Effekt«: »Früher wurden Diskussionen und Abstimmungen bei der SPD von denen beherrscht, die bis tief in die Nacht bleiben konnten, weil sie nicht am nächsten Morgen um 6 Uhr zur Arbeit fahren mussten. Das Pendant dazu ist heute das Internet-Prekariat.«
Ich gebe den Kommentatoren des Blog-Beitrags recht: Wer die Qualitäten von Liquid Feedback beurteilen will, darf die Möglichkeit der Stimmweitergabe nicht ausblenden. Und meine Parteifreunde sehen das ähnlich. Abends beim Piratenstammtisch im »Kinski« oder beim Crew-Treffen im »Caminetto« – wann immer ich meine Startschwierigkeiten mit Liquid Feedback erwähnte, lautete der Rat: Ich solle meine Stimme anderen Piraten übertragen, statt sie verfallen zu lassen. Solche Delegationen seien einfach einzurichten und obendrein im Sinne der Liquid Democracy. Sie machten die Demokratie erst so richtig flüssig.
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