Piratenbraut
berichtete einer Studienfreundin beim Mittagessen von meinem neuen Piratinnenleben und sie witzelte daraufhin: »Na ja, wir sprechen uns in hundert Tagen ...!«
Nach hundert Tagen endet ja bekanntermaßen die Warmlaufphase für Politiker, der Anfängerbonus verfällt. Diese Tradition hat ihre Ursprünge angeblich in Napoleons Zeiten und wurde von US -Präsident Franklin D. Roosevelt als politische Schonfrist etabliert, so stand es jedenfalls mal in der Zeitung. Nach hundert Tagen sollen Politiker sich eingearbeitet haben und erste Erfolge präsentieren – sonst droht die öffentliche Demontage.
Und seit die Piraten in vier Landtagen sitzen, werden auch sie von Journalisten zur öffentlichen Manöverkritik aufgefordert. Just diese Woche fragte Zeit Online den Parteivorsitzenden Bernd Schlömer: »Herr Schlömer, Sie sind jetzt gut hundert Tage Parteichef der Piraten. Was haben Sie bisher erreicht?« Schlömers Antwort las sich bemerkenswert unspektakulär für den Vorsitzenden einer Partei, die doch eigentlich angetreten war, vieles ganz anders zu machen als die Konkurrenz. Er behauptete, es sei den Piraten gelungen, die »öffentliche Debatte über die angebliche Meinungslosigkeit der Piratenpartei etwas aufzubrechen«. Ach wirklich? Da musste ich was verpasst haben.
Wie in einer Endlosschleife wiederholen Journalisten und Wissenschaftler seit Wochen: Um langfristig Erfolg zu haben, brauche eine Partei Themen und Ziele. Doch die Piraten hätten auf vielen Politikfeldern noch immer kein Programm und zu vielen aktuellen Problemen wie der Euro-Krise oder dem Syrienkonflikt keine Haltung. Ja, sie wüssten bisher nicht einmal, ob sie eigentlich wirtschafts-, sozial- oder linksliberal seien.
Wenn ich den Medienberichten glaube, dann steht es inzwischen längst nicht mehr so toll um meine Partei wie noch vor drei Monaten, als ich Piratin wurde. Ungefähr zeitgleich mit meinem Parteieintritt begannen Journalisten, sich zur Abwechslung kollektiv um die Zukunft der Piraten zu sorgen. Die Umfragewerte der Partei näherten sich wieder der Fünf-Prozent-Marke – und in den Überschriften standen plötzlich nicht mehr Worte wie »attackieren« und »entern«, sondern es war von »Flaute« oder »kentern« die Rede.
Vor zwei Wochen schließlich erklärte der Spiegel den von ihm selbst eifrig mitbefeuerten Rummel um die Neuen für beendet: »Nach den großen Wahlerfolgen der Piraten scheint der Hype um die neue Partei erst einmal vorbei.« Vieles, was kürzlich noch als Stärke der Piraten galt, wurde plötzlich zu ihrem Fluch erklärt: Der »Charme des Dilettantismus« verliere allmählich seinen Reiz für die Bürger. Parteichef Bernd Schlömer sei ein »Antivorsitzender«, den Piraten fehle eine Führungsfigur, aus »dem Mitmachwirrwarr« erwachse nicht automatisch »konsistente Politik« – und überhaupt seien die Piraten doch letztlich eine »Partei des Zufalls und der Einzelkämpfer«.
Wer wollte da widersprechen? Nur: Das alles hatte doch auch schon vor drei Monaten gestimmt, als die Piraten allerorten noch als schrullig-chaotische Gewinnertruppe präsentiert wurden. Mir persönlich jedenfalls kommen die Piraten heute nicht sonderlich anders vor als noch vor hundert Tagen. Im Gegenteil. Mir fällt nichts ein, was die Situation der Partei im August grundsätzlich von jener im Mai unterscheiden würde – weder im Guten noch im Schlechten.
Ihr chronischer Dilettantismus hat mich vom ersten Tag an je nach Laune mal amüsiert und mal genervt. Auch ich verliere im »Mitmachwirrwarr« regelmäßig die Orientierung. Meine Stimmung schwankt zwischen Euphorie und Frustration. Zeit für eine schonungslose Zwischenbilanz:
Frau Geisler, Sie sind jetzt gut hundert Tage Mitglied in der Piratenpartei. Was haben Sie bisher erreicht?
Geht gleich los. Ich muss nur noch eben kurz bei Twitter nachsehen, was es da Neues gibt. Oje, gerade hat Simon Kowalewski, der »Radikalfeminist« aus dem Abgeordnetenhaus, getwittert: »Bei mir hat sich der Verdacht auf Lyme-Borreliose bestätigt«, wer Anfang Juni beim Sommer-Camp der Piraten im Havelland dabei gewesen sei und »komische Symptome« habe – »sofort zum Doc!«. Was auch immer er damit meinen mag, mir geht es prima. Aber auch sein Kollege Lauer hat wieder etwas zu melden. Bei Twitter ist auf Christopher Lauer, den Fraktionschef der Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus, wirklich Verlass. Der 28-Jährige ist dort quasi immer auf Sendung. Gerade schreibt er: »Manche Sachen kann man
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