Piratenbraut
Dinge.
»Hi, bin begeistert, wie lebendig das Pad schon ist. Ich les jetzt erst mal«, tippte ich in die Chat-Maske. Sekunden später stand Incredibuls Antwort da. »Jo. Fehlt noch bisschen was Konkretes. Irgendwann muss jemand rechnen.« Dahinter ein heftig lachender Smiley.
»Oje, rechnen«, schrieb ich fröhlich zurück. »Gibt’s nicht total viele Mathematiker in dieser Partei? Ich hab da das Falsche studiert.« Incredibul antwortete prompt: »Ich hab Kommunikationsdesign studiert. Schon ewig nicht mehr gerechnet«, schrieb er. »Aber kann ja jemand korrigieren.« Dieser unbekannte Co-Autor schien Spaß zu verstehen. Das gefiel mir. »Und du machst die Rechnung dann hübsch!«, konterte ich vergnügt. »Das ist ’ne andere Baustelle«, entgegnete er augenzwinkernd.
Ich sah uns bereits als großes Team. Dieser Incredibul schien ebenso klug wie humorvoll, gemeinsam könnten wir etwas stemmen, da war ich mir sicher. Zwar waren die neuen Module zum Ehegattensplitting und zum Kinderfreibetrag, die im Piratenpad dazugekommen waren, noch unfertiger als das, was ich an einem Nachmittag im elterlichen Garten zusammengeschrieben hatte. Aber das würde sich schon noch ändern, dachte ich.
Leider hatte ich mich an diesem Punkt geirrt. Incredibul verschwand so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Er kündigte seinen Abschied nicht an, sondern reagierte einfach nicht mehr. Ich fragte via Chat, ob sich denn überhaupt mehr als zwei Erwachsene das Sorgerecht für ein Kind teilen könnten. Keine Antwort. Ich merkte im Piratenpad an, dass ich im neuen Modul Ehegattensplitting leider inhaltlich noch nicht alles verstehe. Nichts passierte. Schließlich schickte ich Incredibul eine E-Mail und bat ihn um Rat. Denn mir war überhaupt nicht klar, in welcher Form ich diese ganzen Module ins Liquid Feedback einstellen sollte. Schweigen.
Was war passiert? Hatte ich Incredibul versehentlich mit irgendeiner unbedachten Aktion verprellt? Hatte ich irgendwelche virtuellen Anstandsregeln verletzt, weil ich sie nicht kannte? Ich war diesem Incredibul nie begegnet, wir hatten nie ein Wort gewechselt, doch jetzt saß ich vor meinem Laptop und grübelte, ob er womöglich Sommerurlaub machte, mit dem Fahrrad gestürzt war oder sich frisch verliebt hatte. Es änderte nichts. Incredibul blieb stumm. Und auch SofitaLunes war verschwunden. Mir war klar: Ich musste andere Unterstützer finden, sonst wäre mein halb fertiges Projekt an diesem Punkt vermutlich beendet. So war ich natürlich erleichtert, als sich Annika bereit erklärte, an diesem Sonntagabend mit mir die Elterngeld-Initiative durchzugehen.
Und die Begegnung ließ sich großartig an. Annika und Philipp gaben mir als Neupiratin das Gefühl, mein programmatischer Vorstoß sei eine prima Sache. Die Atmosphäre war respektvoll und konstruktiv, der Ton locker und herzlich. Kein abschätziges Wort, keine beißende Kritik an dem, was ich in meiner ganzen Ahnungslosigkeit zusammengeschrieben hatte.
Ich war happy. Endlich hatte ich Piraten gefunden, denen ich alle meine Fragen stellen konnte. Annika und Philipp widersprachen so ziemlich allen Piraten-Klischees. Keine Nerds ohne Benehmen, sondern geschliffen auftretende junge Leute in Jeans und Turnschuhen, die zumindest optisch auch bei den Jusos oder bei der Grünen Jugend nicht auffallen würden.
Und ich war bei Annika und Philipp an zwei Kapazitäten geraten. Die beiden waren Mitautoren des Kapitels zur Geschlechter- und Familienpolitik im Grundsatzprogramm der Piraten. Also jenem Teil des Programms, in dem die Piratenpartei eine »zeitgemäße Geschlechter- und Familienpolitik« propagiert inklusive der Idee, das Geschlecht der Menschen in Deutschland grundsätzlich nicht mehr zu erfassen. Sie hatten schon einige Initiativen ins Liquid Feedback eingebracht und kannten sich mit der Programmarbeit in der Piratenpartei aus.
Mir selbst hingegen war nicht einmal klar, wie so ein Antrag für das Wahlprogramm überhaupt formuliert sein sollte: Kurz oder ausführlich? Ausgeklügelt oder simpel? Wie ein Referat oder wie ein PR -Text? Populistisch oder eher sachlich? Und welchen Regeln musste er folgen?
Ich fragte also Annika: Was, wenn die einzelnen Programmabschnitte am Ende gar nicht zusammenpassten, weil der eine epische Anträge schreibe und jemand anderes nur einen knappen Satz? Das Wahlprogramm würde dann am Ende doch ein total kruder Mix! Klar, bestätigte die Piratin, die einzelnen Kapitel könnten uneinheitlich werden. So sei das
Weitere Kostenlose Bücher