Piratenbraut
Gestaltungsmacht, Geld und ganz, ganz viele Rentenpunkte. Der Wettstreit beschränkt sich nicht auf die Frage, welche Piraten in den nächsten Monaten die steilste Karriere hinbekommen. Die Partei muss gleichzeitig ihren Kurs klären und entscheiden, mit welchen Leuten sie bei der Bundestagswahl über die Fünf-Prozent-Hürde kommen will.
Kaum zu glauben, wie verspielt namhafte Piraten im Mai noch auf Twitter über die Anforderungen an ihre künftigen Bundestagskandidaten brainstormten: »Die Kandidaten müssen einen Kodex unterschreiben, an den sie sich dann nicht halten«, witzelte Christopher Lauer, der Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie müssten »eigenhändig die Sprinkleranlage eines internationalen Flughafens ersetzen können« und »mit einer Hasenzüchtung mindestens einen internationalen Hasenzüchtungszüchterpreis gewonnen haben«. Gerhard Anger, inzwischen wieder zum Vorsitzenden der Berliner Piraten gewählt, fabulierte: »Die Kandidaten sollen ferner bereit sein, Ilias, Odyssee, Zivilprozessordnung, Grundgesetz und die GO des Bundestages auswendig zu lernen«, und außerdem »mit ihrer Herzenswärme einen Bundesparteitag beheizen können«. Simon Weiß, medienpolitischer Sprecher im Berliner Abgeordnetenhaus, ergänzte, die Kandidaten sollten »auf einem Bären zur Aufstellungsversammlung reiten«. Und der Bezirksverordnete Marcel Geppert regte an: »Die Kandidaten müssen den Rubikon überschritten haben.«
Diese Leichtigkeit ist dahin. Wenn ich die Witzeleien heute lese, kommen sie mir vor wie aus einer anderen Zeit.
Ich weiß noch, wie ich staunte, als an einem Vormittag im August während einer meiner Aushilfsdienste in der Parteizentrale ein Pirat hereinspazierte, sich zu Wuerfel und mir an den Tisch setzte und freimütig erzählte, er habe beschlossen, für den Bundestag zu kandidieren. Er wolle sich dort für seine Themen engagieren – welche das waren, habe ich vergessen – und hoffe, damit seine Rente aufzubessern. Mir war diese Ehrlichkeit damals spontan sympathisch.
Inzwischen aber frage ich mich ernsthaft, was jemand eigentlich mitbringen muss, um sich guten Gewissens als Bundestagskandidatin oder -kandidat für die Piraten anzubieten.
Schon vor Monaten haben die Berliner Piraten im Liquid Feedback dazu Vorschläge gesammelt und schließlich über insgesamt 75 Ideen abgestimmt. Die wichtigsten zehn Anforderungen wären demnach: Bundestagsabgeordnete der Piraten sollten Liquid-Feedback-Entscheidungen berücksichtigen, anständig mit anderen Kandidaten aus der eigenen Partei umgehen, das Parteiprogramm gut kennen, kritikfähig, selbstkritisch, teamfähig und aufrichtig sein. Sie sollten Verantwortung übernehmen, Sozialkompetenz haben und »neben den Eierlegendenwollmilchsaueigenschaften vor allem unbestechlich sein«.
Ich hätte ja gedacht, es wäre auch wichtig, dass die Bundestagsabgeordneten der Piraten ihre programmatischen Ziele prägnant zur Geltung bringen und als Oppositionsfraktion die Regierungsparteien damit unter Druck setzen, dass sie Ideale wie Transparenz oder Basisdemokratie in den Bundestag tragen, obendrein mit überdurchschnittlichen Redebeiträgen im Plenum bestechen, in Talkshows punkten – und grundsätzlich einigermaßen unfallfrei kommunizieren. Aber da lag ich wohl mal wieder daneben.
Schon Mitte Juli kürten die Piraten in der Oberpfalz einen 19-jährigen Azubi einstimmig zum Direktkandidaten, der erst drei Wochen zuvor Parteimitglied geworden war. Auf seiner »Wiki«-Seite versichert der Teenager, er sei weder in Privatinsolvenz noch vorbestraft, habe nie für die Stasi gearbeitet und gehöre nicht zu Scientology. Wie beruhigend.
Im baden-württembergischen Rastatt stellten die Piraten einen Lehrer als Direktkandidaten auf, der seine Eignung so begründet: »Ich will in den Bundestag, weil ich die PIRATEN als ›Entlauser‹ der derzeitigen Parteienlandschaft sehe. Ich habe ein anderes Politikverständnis als die meisten Abgeordneten, mein Betriebssystem ist Herz, Verstand und Transparenz.«
Im Piraten-»Wiki« finden sich »Logbücher«, in denen potenzielle Bundestagskandidaten jede E-Mail aufführen, die sie in Parteiangelegenheiten verschickt, und jeden Anruf, den sie für die Partei getätigt haben.
Im August war es für mich noch eine Nachricht, als Anke Domscheit-Berg, die ehemals grüne Netzaktivistin, Ex-Microsoft-Managerin und Frau des WikiLeaks-Aussteigers Daniel Domscheit-Berg, ihre Bewerbung für die
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