Piratenbraut
Nachmittag jedenfalls klar: Ich habe die Bedeutung von Liquid Feedback grundsätzlich überschätzt. Ich habe mich mitreißen lassen von verheißungsvollen Medienberichten und gut klingenden Thesen. Mag sein, dass sich einige Piraten in Talkshows oder Interviews gerne hervortun mit Aussagen über die angeblich veraltete parlamentarische Demokratie und die zeitgemäßere Liquid Democracy. Aber wenn ihnen dieses Projekt so wahnsinnig wichtig ist, müssten sie dann nicht darauf dringen, dass die Ergebnisse im Liquid Feedback zuverlässig sind?
Am nächsten Morgen reihen sich auf meinem Handy-Display so viele Twitter-Symbole wie noch nie. Ich öffne eilig meinen Account und stelle fest: Fehlalarm. Ich habe fünf neue Follower. Kein Kommentar, den ich auf Twitter finden kann, klingt irgendwie spektakulär. Und meine Nachricht über Pirat111 hat gerade mal ein gutes Dutzend Retweets. Nein, was ich bis jetzt erlebt habe, ist kein Shitstorm. Vielleicht eher ein Witz.
Ich frage mich, was die Aktion eigentlich gebracht hat und ob ich die Sache mit meinem Zweitaccount doch nicht hätte über Twitter streuen sollen. Aber dann fällt mir wieder ein, was gestern Abend jemand aus meiner Crew einwarf, als ich den anderen verunsichert erzählte, der Bundesvorstand sei nun wohl sauer auf mich. Er stellte mich nicht etwa zur Rede. »Hey«, rief er in die Runde, »wir sind doch Piraten!«
20 »Die Kandidaten müssen den Rubikon überschritten haben«
20 »Die Kandidaten müssen den Rubikon überschritten haben«
Warum der Bundestagswahlkampf die Partei verändert und fast jedes Mitglied antreten könnte
Tom lässt heute mal Hitler für sich sprechen. Natürlich nicht den historischen, sondern eine mehr als zwei Millionen Mal geklickte Parodie auf YouTube, bei der ein Schauspieler als Hitler verkleidet zehn Minuten lang cholerisch auf den Tisch haut und dabei unzählige Male »Nein!« brüllt. »Nein! Nein! Nein! Nein!« Was Tom von den umstrittenen Programmentwürfen zur Wirtschaftspolitik der Piraten hält, ist damit klar.
Während also vorne an der Beamer-Leinwand, die mal ein Bettlaken war, der Diktator herumbrüllt und auf den Schreibtisch trommelt, hält Denis im virtuellen Sitzungsprotokoll der Crew Prometheus fest: »Zu allen Anträgen sagen wir« – und dann folgt der Link auf das Video.
Toms Meinung zählt etwas in der Crew, er ist ein kluger, ausgleichender Typ – und hat obendrein Ökonomie studiert. Er hat sich bereit erklärt, uns heute Abend zu erläutern, was er von zwei umfangreichen Grundsatzanträgen zur Wirtschaftspolitik hält. Die Anträge sollen in fünf Wochen in Bochum beim Bundesparteitag auf die Tagesordnung kommen – und von dort, noch rechtzeitig zur Bundestagswahl, ins Grundsatzprogramm der Partei. Damit niemand mehr behauptet, die Piraten hätten keine Inhalte zu bieten.
Auf den ersten Blick geht es nur um die Frage, welches der konkurrierenden Wirtschaftskonzepte das Bessere ist: das »Grundsatzprogramm Wirtschaftspolitik« oder der Gegenantrag »Wirtschaftspolitische Grundsätze der Piratenpartei«. Doch letztlich steht an diesem Oktoberabend im Hinterzimmer des »Caminetto« das künftige Profil der Partei zur Debatte: Sind die Piraten links- oder wirtschaftsliberal, sozialliberal, freiheitlich oder stattdessen eher undogmatisch, emanzipatorisch, progressiv beziehungsweise halt irgendwie voll anders?
Schon in den vergangenen Wochen kamen bei unseren Crew-Treffen immer öfter Richtungsstreits in der Partei zur Sprache. Es ging um Parteichef Bernd Schlömer, um die Frage, wie FDP-nah er wirklich ist, und auch um die Sorge einiger Berliner Piraten, mit ihrem vergleichsweise linksalternativen Kurs von mitgliederstarken Landesverbänden wie Bayern und Baden-Württemberg an den Rand gedrängt zu werden.
Tiefe Risse ziehen sich durch die Partei, vielleicht sind es auch längst Spalten. Einige Piraten hören sich an, als wären sie in den Achtzigerjahren mit Jutta Ditfurth im linken Flügel der Grünen groß geworden. Andere scheinen auf der Suche nach einer cooleren Version der Linkspartei. Manch einer wäre mit seinen marktradikalen Thesen zweifellos auch in der FDP willkommen. Wieder andere würden sich vermutlich ersatzweise in der STATT -Partei abreagieren, wenn diese Protestgruppierung nicht vor Jahren in der Bedeutungslosigkeit versunken wäre. Und es wäre naiv, die Parteibasis einfach nur als bunt einzuordnen. Bei den Berliner Piraten fühlte sich zwischenzeitlich auch ein Rechtsanwalt
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