Pitch Black
Punkt seines Lebens–sowohl was das Alter als auch was Freundschaften betraf. Er war immer noch der »Neue« und musste damit irgendwie fertig werden. Wäre es in Anbetracht dessen nicht besser für ihn, sich gleich heute der Schule und den unvermeidlichen Fragen neugieriger Klassenkameraden zu stellen?
Soweit sie das beurteilen konnte, war Jordan Gray sein einziger enger Freund. Und bis der wieder voll genesen war, konnte einige Zeit vergehen. Auf diese Möglichkeit musste Ethan sich einstellen. Wenn er seine gewohnte Routine beibehielte, wäre das vielleicht der einfachste Weg.
Auf der anderen Seite…
An der Schlafzimmertür klopfte es leise. »M? Bist du wach?«
Sie hatte sich entschieden. Er würde zur Schule gehen. »Ja. Komm rein.«
Er drückte die Tür auf, blieb aber auf der Schwelle stehen. Er hatte sich bereits angezogen, und er sah aus, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan. Seine Haare erinnerten an ein Rattennest, als hätte er sich dauernd hin und her gewälzt oder wäre ein paarmal mit den Händen durchgefahren.
Die mitfühlenden Worte, die ihr schon auf der Zunge lagen, schluckte sie schnell hinunter, und sie unterdrückte den Drang, ihn an sich zu ziehen und in die Arme zu nehmen. Stattdessen sagte sie: »Du bist früh auf den Beinen.«
»Ja. Ich würde vor der Schule noch gern schnell bei Jordan im Krankenhaus vorbeifahren.«
Ein wenig schämte sie sich wegen des Gefühls der Erleichterung. Sie musste keine diktatorische Entscheidung treffen und ihn zwingen, am Unterricht teilzunehmen.
»Was ist, wenn’s ihm unverändert geht?«, fragte sie. »Vielleicht wäre es besser, ihm noch einen Tag Zeit zu lassen und nach der Schule hinzufahren. Ich könnte früher aus der Redaktion…«
»Ach komm schon, M! Du weißt genau, dass ich nicht gleich ausflippe, wenn er immer noch…daneben ist.« Er starrte ihr fest in die Augen. »Ich könnte mich in der Schule ohnehin auf nichts konzentrieren, bevor ich nicht bei ihm war. Nur für eine Minute. Und vielleicht hilft es ihm ja, wenn ich ihn besuche.«
Seufzend setzte sie sich auf und strich sich die Haare aus der Stirn. Manchmal rächte es sich, dass sie ihm schon so einiges beigebracht hatte. Sie hatte es sich selbst zu verdanken, dass er genau wusste, wie er seine Argumente einsetzen musste.
»Lass mir eine Minute Zeit, damit ich mich anziehen kann. Duschen verschiebe ich auf später, wenn ich dich an der Schule abgesetzt habe.«
Er nickte und ging hinaus. Die Tür zog er hinter sich zu.
Zwanzig Minuten später betraten sie das Krankenhaus. »Die Besuchszeit beginnt erst mittags um ein Uhr«, sagte Madison, »also geh einfach weiter, als würdest du hierhergehören.«
An einem normalen Tag hätte Ethan sie nun in heftige Diskussionen verstrickt und ihre Belehrungen darüber, welche Vorschriften man befolgen solle und welche nicht, gegen sie gekehrt. Aber heute war kein normaler Tag.
Sie fuhren mit dem Aufzug in den zweiten Stock und gingen ohne Zögern an der Schwesternstation vorbei. Nicht, dass es die Schwestern groß interessiert hätte, wer gerade kam oder ging; sie waren in die Unterhaltung über einen Fernsehfilm vertieft, der letzte Nacht gelaufen war.
Die Tür zu Jordans Zimmer war geschlossen.
»Lass mich erst mal nachschauen«, sagte sie.
Ethan sah besorgt drein. Sie widerstand dem Drang, ihm die Haare aus den Augen zu streichen.
Leise öffnete sie die Tür und spähte vorsichtig hinein. Die Vorhänge waren zurückgezogen. Strahlendes Sonnenlicht durchflutete das Zimmer und spiegelte sich in Jordans immer noch starrem Blick wider. Enttäuschung breitete sich wie eine unverdauliche Mahlzeit in ihrem Magen aus. Wenn der Anblick sie schon derart traf, wie würde es da erst Ethan gehen?
Bevor sie noch länger darüber nachdenken konnte, ging Ethan an ihr vorbei zu Jordans Bett. Zu ihrer Überraschung nahm Ethan Jordan bei der Hand. »He!«
Jordan zeigte keinerlei Reaktion, er hätte eine Figur aus Wachs sein können. Er sah sogar noch schlechter aus als gestern.
Ihre Anspannung wurde immer größer. Wie würde Ethan auf Jordans unveränderten Zustand reagieren?
Doch der zögerte nur eine Sekunde. »Du hast Glück, Alter«, sagte er in einem bemerkenswert normalen Tonfall. »Du kannst den ganzen Tag faul hier im Bett rumliegen und brauchst dir nicht das endlose Gelaber von Mrs Hillenberg über die ›unglaublich bedeutenden und vielschichtigen‹ Kurzgeschichten von O. Henry anhören.« Er hatte dabei kurz die Stimme so
Weitere Kostenlose Bücher