Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
anderes Ökosystem«, sagt der Greis. Während er Iwan ansieht, beginnen seine Augen zu schmelzen wie Kerzen und laufen ihm als wächserne Rinnsale über die Wangen. »Verstehst du? Ver…« Das Gesicht des Greises verschwimmt und fällt ein.
»Merkulow!«
Jemand rüttelte ihn an der Schulter. Iwan öffnete die Augen und sein erster Gedanke traf ihn wie ein Hammerschlag: Verdammt, verschlafen!
»Habe ich verschlafen?« Noch halb blind, setzte er sich auf. Sein Schädel schmerzte, als steckte ein nasser, schwerer Ziegelstein darin. Vom Gefühl her hatte er höchstens eine Minute geschlafen. »Was ist los? Die Hochzeit. Oder was?«
Iwan sah immer noch unscharf. Den Menschen, der ihn geweckt hatte, erkannte er nur als dunkle, verschwommene Silhouette, und er begriff nicht, was der von ihm wollte. Sein Herz schlug heftig und schnell.
»Merkulow, du sollst dich beim Kommandanten melden!«, sagte die Silhouette. »Dringend.«
Auf dem Bahnsteig brannte nur die Nachtbeleuchtung. Während er seinem Begleiter mechanisch folgte, versuchte Iwan sich darüber klar zu werden, wie spät es war. Hatte er lange geschlafen? War womöglich schon wieder Nacht? Wie an den meisten Stationen wurde auch an der Wassileostrowskaja der Tag-Nacht-Rhythmus künstlich aufrechterhalten. Iwan blinzelte, um endlich den Schleier vor seinen Augen loszuwerden. Verflucht. So elend hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.
Reiß dich zusammen, Idiot, und wach endlich auf!
In dem kleinen Raum, in dem der Kommandant und seine Familie lebten, brannte eine Karbidlampe und beleuchtete dessen große Hände, die auf der hölzernen Tischplatte ruhten.
»Du hältst es wohl nicht aus auf deinem Hintern«, sagte Postyschew.
»Äh …«
»Ich hatte dich ausdrücklich gebeten, nicht allein zu gehen. Korrekt?«
Iwan nickte.
»Und?« Mit seinen klugen Augen, deren Blick so bohrend war wie Sirenengeheul, sah Postyschew ihn an und wartete auf eine Antwort. Er hatte einen mächtigen Schädel und gelbliches, schütteres Haar.
»Und ich habe es trotzdem getan.«
»Und wozu? Was bitte soll ich deiner Tanja erzählen, wenn dir etwas passiert?«
Iwans Wangen zuckten, doch er schwieg und schaute starr geradeaus.
»Willst du mir nicht sagen, wozu das nötig war? Du könntest wenigstens einmal eine Antwort geben.«
»Ist das ein Befehl?«
»Ach, hab mich doch gern!« Postyschew winkte ab. »Wenn du nichts sagen willst, dann lass es. Du bist ein erwachsener Mensch, Offizier, Bräutigam und was weiß ich. Hast du wenigstens mitbekommen, dass es hier einen Zwischenfall gab, während du dich herumgetrieben hast?«
»Ja. Wir haben kein Licht mehr.«
»Kein Licht?« Postyschew schnaubte verächtlich und stand auf. »Komm mit. Ich werde dir zeigen, was wir nicht mehr haben.«
3 Krieg
3
KRIEG
Iwan wusste nicht mehr genau, wie das damals passiert war. Die Kindheitserinnerungen waren so bruchstückhaft wie die zerborstenen Fensterscheiben eines ausrangierten Zugs und ergaben kein stimmiges Gesamtbild. Da war der Zoo, das wusste Iwan noch. Manchmal, wenn er die Augen schloss, sah er den Himmel vor sich, gleißend hell wie auf einem überbelichteten alten Foto, dazu die schwarzen Umrisse der Blätter und die Schnörkel des gusseisernen Gatters. Es musste im Sommer gewesen sein und die Sonne schien. In der Nähe stand ein Kiosk mit der Aufschrift » ZUCKER WATTE « und verströmte einen süßen, heißen Duft. Damals konnte er schon lesen. Oder auch nicht. Iwan konnte sich nicht erinnern. Dafür wusste er noch, wie lautlos er ging – oder lief er? Wenn er den Kopf senkte, sah er seine Füße, die in Sandalen steckten. Wenn er ihn hob, war über ihm ein einziges Leuchten, Singen und Zwitschern und alles so riesig, dass es mit den Armen nicht zu umfassen war. Nicht einmal mit dem Blick. Dann sah er diese Frau. Dieses Bild hatte er von allen am deutlichsten vor Augen.
Seine Mutter.
Er lief und sah, wie der Asphalt schwarze, mäandernde Risse warf. Der Boden unter seinen Füßen schwankte. Iwan – der damalige Iwan – lief zu seiner Mutter. Sie trug einen langen dunklen Rock und eine weiße Bluse. Oder ein Kleid? Sie breitete die Arme aus und beugte sich vor, um ihn aufzufangen. Und während er mit rudernden Armen auf sie zulief, begann die Erde sich zu neigen.
Auf diesem schiefen, brüchigen Boden konnte er seine Mutter nicht erreichen.
Und während die Welt allmählich zur Seite kippte, fiel auf die Stufen hinter dem Rücken seiner Mutter, auf das Gebäude
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