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Pittys Blues

Pittys Blues

Titel: Pittys Blues Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Gaebel
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den Polstern zerrupft werden.
    Seine Gesichtsfarbe wechselte jede Sekunde.«Mir ist schlecht.»Er legte seinen Kopf auf dem Lenkrad ab und gab keinen Laut mehr von sich. Dick war vielleicht von außen ein Klotz, aber von innen windelweich. Seine Eingeweide hatten sich zu einer breiigen Masse verdünnt, die ihm jetzt auf Teufel komm raus durch den Stoff rutschen wollte, egal ob nach oben oder unten.
    Während Dick immer tiefer in der Sitzbank versank, stand Pitty ein Stück entfernt auf der Lichtung und hielt ihr Gesicht in den fallenden Schnee. Sie hatte alle Zeit der Welt. Es war, als würde sie nah und gleichzeitig sehr weit weg sein.
    Oben am Himmel schubste eine schwarze Wolke die
anderen zur Seite und drängelte sich in die unterste Luftschicht. Direkt über Pitty, Dick und den Pick-up. Pitty sah die Wolke näher kommen und öffnete ihren Mund. Sie stellte sich vor, dass der Schnee aus der dunkelgrauen Wolke anders schmecken würde als der aus der hellen. Vielleicht salzig, vielleicht schärfer, eben anders.
    Und bevor auch nur eine Schneeflocke ihre Lippen berühren konnte, schmeckte Pitty die Küsse, die Dick und sie sich gegeben hatten, sie schmeckte diese warme feuchte Süße, und sie küsste jede weitere Schneeflocke, die sie mit ihrem Mund aufnahm, als berührte sie Dicks Lippen. Pitty legte den Kopf so tief in den Nacken, dass sie den Pick-up kopfüber sehen konnte, und sie sah auch kopfüber, wie Dick vom Fahrerplatz rutschte und neben dem Pick-up landete.
    Auch wenn Dick so etwas niemals hören wollte, es gab einige Züge an ihm, die hatte er von seinem Vater. Wie zum Beispiel den, der jetzt zum Vorschein kam: Er wurde ganz furchtbar wütend. Warum, das konnte er durch seine Wut nicht sehen. Er sah nur den Pick-up, der ihm alles vermieste.
    Er suchte heftig nach etwas, sodass man die Fetzen fliegen sah. Er rupfte Bezüge von den Sitzen, er zerrte die Sitzbank aus ihren Angeln. Er verbog alles, was er nicht abbrechen konnte, er zerlegte seine Karre. Und er schrie, er riss, er zog, er brach, er zerrte, dass es selbst einem Unberührbaren angst und bange werden konnte.
    Aber Pitty konnte das nicht beeindrucken. Sie trat näher an den durchgedrehten Kerl heran, dessen Geschmack
sie immer noch ganz deutlich auf ihrer Zunge spürte, während sie den Augenblick hinauszögerte, die letzten gefangenen Schneeflocken runterschlucken zu müssen. Dick beachtete Pitty nicht.
    Der Schnee hatte die Äste der Bäume so beschwert, dass in diesem kleinen Wäldchen hinter Rickville statt einer wattierten Ruhe ein immer vorhandenes Knacken, Knarzen und Brechen war. Die Äste, Zweige und Blätter waren so feucht, dass man sie schmatzen hörte, wenn man nur nahe genug an sie herantrat.
    Und jetzt gefror diese Nässe und zog alle Fasern zusammen. Die Bäume, so schien es, klammerten sich an ihre abbrechenden Teile.
    Dick schien gefunden zu haben, was er brauchte. Er stand mit einem dicken Eisenrohr vor der Motorhaube und holte mit Schwung aus.
    Macht eine Beule ein Auto schöner? Ich glaube, es wird dadurch einzigartig, es bekommt Charakter.
    Unsere Erfahrungen sind unsere Beulen, sie machen uns besonders, solange es keinen Totalschaden gibt.
    Für Dick fühlte es sich an, als wäre sein Pick-up ein Spiegelbild seiner Selbst. Lädiert, aus den Fugen, verschrammt. Aber immer noch zu wenig versehrt. Er prügelte weiter. Immer weiter. Und mit jeder weiteren Beule, die er in den Wagen hämmerte, schien er eine Blessur von seiner Seele zu wischen. Er schimpfte und schrie, mit sich selbst, mit Elliot, dessen Atem er in seinem Nacken spürte, mit allen, die es hören wollten, und allen, denen es egal war.
    Pitty sah ihm sprachlos zu, wie er seinen Pick-up zerlegte.
Ihr rückte mit jedem Schlag Dicks das Gespräch mit Tulipe näher, und ihr Blick ruhte auf jener Nacht beim Pick-up.
    Jedes tief scheppernde Klong des Blechs hatte einen Hall, der ihre einzelnen Nervenbahnen miteinander verband, in ihrer Erinnerung schlossen sich jetzt die Lücken.
    Sie sah einen Lichtschein, der wie ein Spot hinter dem Pick-up die Lichtung erhellte, den Wagen aber als einen großen Schatten erscheinen ließ. Sie sah Nebelschwaden, die kalte Bläue der letzten dunklen Stunden von Sommernächten, sie sah die Umrisse der Menschen, die um den Wagen herumstanden. Sie erkannte Tulipe. Alle standen für sich, als trauten sie sich nicht, dem ihnen am nächsten Stehenden zu nahe zu kommen, wie Schemen, im Halbrund um den Pick-up. Pitty sah sich auf den Wagen

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