Pixity - Stadt der Unsichtbaren
Mayo oder Ketchup?«
Lisa, jetzt den schwarzen Wintermantel über ihrer sommerlichen Blöße, natürlich wieder ohne anzuklopfen. Bentner sah auf ihre Füße, sie stecken nun in Stiefeln, die unter dem Mantel verschwanden.
»Bist ein flexibles Mädchen. Hast du einen Kleiderschrank in deinem Büro?«
»Nee. Nur ’ne Garnitur zum Männeraufgeilen und eine für schlechtes Wetter. Also?«
Bentner hatte keinen Hunger und wählte einen kleinen Döner ohne Zwiebeln. Er würde ihn im Laufe des Nachmittags essen, ohne es zu bemerken. Lisa nickte, angelte den Zehner aus Bentners hingehaltener Faust und freute sich auf das Wechselgeld.
Bentner zog seine Jacke an und verließ das Gebäude. Er drehte die übliche Runde um den Block, ein grübelnder Mann unter einem hellen eisblauen Himmel. »Denk nicht so viel.« Olivias Stimme aus dem Off, auf einmal in seinem Kopf, als stünde sie neben ihm. Dabei hatte sie hinter ihm gestanden und seinen Rücken massiert, während Bentners Augen am Bildschirm in endlosen Reihen komplexen Codes verloren waren.
Olivia war jetzt die zweite Geige in einem drittklassigen Provinzorchester irgendwo im Brandenburgischen und Bentner sah sie in ihrem schwarzen Kleid, wusste, was sie darunter an hatte: einen schwarzen Body, ein schwarzes Spitzenhöschen, eine dünne fleischfarbene Strumpfhose. Die Geige zwischen Kieferknochen und Schulterblatt fixiert, sehr konzentriert, sehr abwesend, ohne einen einzigen Gedanken außerhalb der Notenwelt, in ihre Töne versunken.
Zu Weihnachten schickten sie sich Karten, auf deren Rückseiten nicht genug Platz war, mehr als unverbindliche Grüße zu schreiben. Sie wanderten in eine Schublade und würden irgendwann im Müll landen.
Er könnte sich auszahlen lassen. Darauf arbeiteten sie doch hin. Eine Viertelmillion? Sie würden stöhnen und dabei innerlich jubilieren. Aber das waren jetzt die obligatorischen Sätze mit »könnte«, die Bentner auf seiner kurzen Runde durch die Kälte dachte. Er könnte es noch einmal mit Olivia versuchen, sie aus ihrem Elend der Drittklassigkeit holen, damit sie ihn aus seinem Elend ziehen konnte, das klassenlos war. Wegfahren mit ihr, nicht mehr wiederkommen. Er wusste, dass ihre Mutter gestorben war und sie ein Haus geerbt hatte, das würde man verkaufen. Irgendwo hin wo es billig ist, man nicht arbeiten muss. Oder arbeiten, was einem Spaß macht. Bentner fiel nicht ein, was das sein könnte.
Er könnte auch rebellieren, eine neue Geschäftspolitik für PixBiz fordern, aufhören mit dieser Abzocke argloser Kids. Dann würde sich der kalte Krieg endgültig in einen heißen verwandeln. Er könnte auch weiterhin vor seinen Monitoren sitzen, bald von allen vergessen sein, ein schrulliger alter Mann werden, von dem man wie von einem Gespenst sprach. Der hat das alles hier geschaffen. War mal Gott gewesen. Lang ist’s her.
Er könnte – einfach nicht mehr ins Büro zurückgehen. Mit dem Bus in die Stadt, den Wagen aus der Werkstatt holen, nach Hause fahren. Ja. Könnte er. Und dort? Sich vor den Rechner setzen. Ihn nicht anmachen wollen. Ihn dann doch anmachen.
Es bereitete ihm Angst, nach der Pause durch Pixity zu streifen. Er hatte das Fenster mit der Liste seiner »Freunde« aufgeklappt und konnte sehen, wer gerade on war. Er sah nur auf einen Namen und das »off« dahinter. Er hoffte, sie würde sich nicht einloggen, und er fürchtete sich davor, sie würde off bleiben.
Anna.
Er hatte Anna in einem der Nachhilferäume kennengelernt, die Alinas ganzer Stolz gewesen waren. Eine pädagogische Sensation, hybrides Lernen im Team. Pixies konnten sich zu Lerngruppen zusammenschließen und in privaten Räumen Stoff, den sie in der Schule nicht verstanden hatten, multimedial repetieren. Jeder ihrer Schritte wurde analysiert, eine mächtige Datenbank wies auf Fehler hin, nannte die Schwächen. Aber es gab keine Lösungen. Die musste man in der Gruppe selbst erarbeiten, und auch das wurde wiederum analysiert und kommentiert.
Sehr schön, sehr wertvoll, und anfangs hatten sich, auf sanften Druck ihrer Lehrer, ganze Klassen eingeloggt und über mathematische Lösungswege, den Aufbau dialektischer Aufsätze oder biologischer Systeme gegrübelt. Nicht lange jedoch und die Räume waren leer, von Solisten bisweilen frequentiert, die im freundlichen Ambiente des Zimmers hockten und auf ihresgleichen warteten.
Eigentlich lohnte es sich also nicht, Jana an diesem Nachmittag in den Nachhilferaum für Mathematik zu schicken. Sie saß
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