Pixity - Stadt der Unsichtbaren
Gruß zu belassen, mit dem er an normalen Tagen davongekommen wäre. Sie händigte ihm drei Briefe aus, erkennbar Werbung und sonst nichts. Er hatte ihr gesagt, sie solle das Zeug gleich in den Papierkorb werfen, aber das widersprach ihren professionellen Prinzipien. »Steht doch Ihr Name drauf, Herr Bentner!«
Jetzt arbeitete sie erfolglos auf ein paar Tränchen hin, hatte auch das Papiertaschentuch schon in der Hand, zog geräuschvoll ein paar Fädchen imaginären Rotz hoch.
»Heute Morgen um Zehn ist Chefkonferenz, Frau Marschall kommt auch.«
Noch eine Witwe.
»Geht in Ordnung«, sagte Bentner und schickte sich zum Weitergehen an, ein hoffnungsloses Unterfangen.
»Das ist alles so schrecklich! Der arme Herr Weidenfeld! Mit einem Küchenmesser erstochen!«
Woher sie das wusste, sagte sie nicht, wahrscheinlich vom Hausbesitzer. Bentner nickte die Information ab, murmelte sein »Ja, ja, schrecklich«, und setzte vorsichtig das rechte Bein vor das linke. Almuth Neu begann zu schluchzen, endlich, der Trauermechanismus funktionierte einigermaßen. Etwas Nasses kullerte über die Wangen, als hätte sich die Sekretärin soeben eine geschälte Zwiebel vorgestellt, wurde mit dem Papiertaschentuch demonstrativ weggewischt und zur Sicherheit ein wenig betrachtet.
»Wer hätte das gedacht, als wir hier anfingen, es kommt mir wie gestern vor. Aber das wissen Sie ja selber.«
»Ja, wie gestern«, bestätigte Bentner und setzte das linke Bein neben das rechte, das rechte wieder vor das linke.
»Die Polizei kommt heute Morgen noch vorbei und wird die Leute befragen«, sagte er. Das linke Bein neben das rechte, die Absenderangaben auf den Briefen anschauen, das rechte Bein vor das linke.
»Ja, ich weiß.«
Sie trat einen Schritt auf den Flur, seufzte abermals und wandte sich um, bewegte noch einmal das Papiertaschentuch kopfwärts, aber keine Tränen zum Trocknen vorhanden, sie knüllte es enttäuscht zusammen, zog noch einmal die Nase hoch, diesmal nicht sehr überzeugend.
»Bis später«, sagte Bentner und linkes Bein, rechtes Bein, linkes Bein, rechtes Bein, in seinem Rücken ein kräftiges Schnäuzen in ein frisches Papiertaschentuch. Eine sacht geschlossene Tür.
Rickboy_16: keine schule heut?
Anna_lieb_dich: bin krank
Rickboy_16: uh! was hast?
Anna_lieb_dich: ka. fieber so was
Rickboy_16: hm. erkältung
Anna_lieb_dich: jaaaa
Rickboy_16: hm xxx ey
Anna_lieb_dich: xxx?
Rickboy: na darfs hier nich schreiben was. Kot. Haha!
Anna_lieb_dich: lol
Wieder war sie aus dem Nichts aufgetaucht. Er hatte sie gleich erkannt, ein Mädchen im orangenen Badeanzug, das am Eingang zum Freibad stand, sich orientierte – es waren nur drei Pixies im Raum – und dann zielstrebig den Tisch am Pool ansteuerte, an dem Rickboy saß und wartete.
Natürlich ein Fauxpas, dachte Bentner. Sie schwelgen in Weihnachten und haben das Freibad offen gelassen. Bei nächster Gelegenheit monieren. Man würde argumentieren, das ginge kleinen Mädchen und Jungs am Allerwertesten vorbei, das Freibad war beliebt, ein Ort lockerer Kontakte, Jungvolk in freizügiger Badekleidung, es gab Eis und kühle Getränke umsonst, man konnte sogar ins Becken springen und herumschwimmen, Pixies mit Sonnenbrillen wirkten besonders cool, fanden leichter Anschluss, das hatten ein paar Hanseln von der Uni herausgefunden, stimmte also.
Rickboy_16: Wie is wetter bei euch?
Er sah aus dem Fenster, der Himmel blau wie gestern, nicht ganz vielleicht, kein Schnee war über Nacht gefallen.
Anna_lieb_dich: uh blau draussen. schneit aber nich
Irgendwann hatte Bentner damit begonnen, Anna nach dem Wetter zu befragen, um die Gegend, in der sie wohnte, einzugrenzen. Das Ergebnis erstaunte ihn. Anna musste ganz in der Nähe vor einem Rechner sitzen.
Rickboy_16: Gehst heut auch zur schlittschuh-bescherung?
Eine bescheuerte Aktion der Stadt, Bentner war am Morgen an einem Plakat vorbeigekommen, Schlittschuhlaufen zum Sonderpreis in der Eishalle und um sechs kommt der Nikolaus und verteilt Werbegeschenke der örtlichen Kaufmannschaft nebst kleinen Tüten mit minderwertigem Gebäck.
Anna_lieb_dich: nö. bin doch krank. außerdem kb. mag das nich so mit eislauf. fällst doch nur auf schnauze
Durchatmen. Anna lebte in der Stadt, im Umland, es gab Zufälle, vielleicht war dies einer.
Vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte sie Rick missverstanden, vielleicht gab es dort, wo sie wohnte, ebenfalls ein großes Nikolaus-Schlittschuhlaufen, war das Wetter so wie hier. Oder sie
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