Pixity - Stadt der Unsichtbaren
zu öffnen. Aussichtslos. Ein stabiles Band vereitelte den Versuch. Er zog an den Fesseln, die ihn zwischen den Bettpfosten fixierten. Aussichtslos.
Was hatte er getrunken? Nicht viel, Gott sei Dank. Sich bloß nicht einnässen. Lisa. Er dachte an Lisa, gefesselt auf dem Bett, er sah Lisa, gefesselt auf dem Bett. In der eigenen Pisse liegend, aber immerhin nicht nackt. Warum war er nackt?
Die Person musste am Schreibtisch vor dem Laptop sitzen und tippen. Hörte man. Ein routiniertes, schnelles, gleichmäßiges Klöppeln auf der Tastatur. Das rechte Nasenloch ging zu, Bentner zog den Rotz in die Mundhöhle, drückte ihn aus der Nase hinaus, was die Sache noch verschlimmerte. Er hob den Kopf und ließ ihn schwer zurückfallen, er brummte gegen das Band vor seinem Mund, das musste sie doch hören. Das hörte sie wohl. Aber sie tippte weiter.
Jetzt sterbe ich. Das ist der Moment, in dem ich es weiß, so wie Claus es wusste, als jemand – vielleicht diese Person hier – ein Messer in der Hand hielt und zustoßen würde. Ein Gedanke: Ich bin gleich tot. Noch funktionierte das linke Nasenloch, war frei. Man musste gleichmäßig atmen, ruhig und tief. Schweiß lief ihm über die Stirn. Sein Unterleib war kalt, Bentner begann zu zittern. Etwas tun. Olivias Telefonnummer wiederholen. Immer wieder. Sich vorstellen, wie man die Zahlen tippt, wie es dann am anderen Ende der Leitung klingelt, sich vorstellen, wie abgehoben wird und sich Olivias Stimme meldet.
Er musste so denken wie Claus. Jetzt, wo er so gut wie tot war wie Claus. Der hatte einen Pixity-Nick auf einem alten Rechner gefunden und sich gemerkt, goldenesBlut.
So tun, als sei das hier alles gar nicht wahr. Als säße man relaxt auf dem Sofa und würde ganz locker nachdenken. En passant. Schöner Ausdruck. Ein Ereignis löst ein Ereignis aus, weil es ein anderes Ereignis – nein, komm, jetzt drück dich klarer aus. Verstehst du doch selber nicht. Programmiererkacke. Ein Nasenloch hast du noch, das ist der Tunnel, der dich mit dem Leben verbindet. Hallo Leben, sagst du ausatmend, hallo Bentner, sagt das Leben, wenn du einatmest. Die Person traktiert noch immer den Rechner, sie hört dich atmen, sie wird sofort kommen, wenn du nicht mehr atmest, wenn du dich aufbäumst. Wie lange dauert das eigentlich? Man wird ohnmächtig und schläft sich dem Tod entgegen. Es gibt schrecklichere Tode, oder? Verbrennen. Stell dir vor, du verbrennst. Die Person schüttet Benzin über dich. Sie beginnt damit an den Füßen, sie endet über deinem Kopf, auf den die stinkende Flüssigkeit fällt. Dann das Geräusch eines angeriebenen Streichholzes, eines Feuerzeugs. Nicht vorstellen, wie man in diesem Moment wüsste, dass einem gleich die Haut … nicht vorstellen, dass dieser Schmerz nicht mit dem zu vergleichen sein wird, den du einigemal gespürt hast, als ein Topf wider Erwarten noch heiß war und nicht schon abgekühlt.
Ein Ereignis. Ein zweites Mal hörte Claus Weidenfeld den Namen goldenesBlut. Dieser Name ist ein Schlüssel. Wer Datenbanken aufbaut, tut gut daran, solche Schlüssel zu definieren, mit denen bei einer Abfrage aus verschiedenen Tabellen korrelierende Daten ausgelesen werden können.
Okay. Nein, besser: goldenesBlut ist eine booleansche Variable, ein Wert entweder 0 oder 1, false oder true. If goldenesBlut = false then exit . Dann das Ereignis, das die Variable auf true schaltet. If goldenesBlut = true then chase() . Chase() ist eine Funktion, eine Methode, Claus hat etwas getan, er hat gejagt, er hat sich an jemanden herangepirscht. Aber an wen?
Weg von Claus. Hin zu goldenesBlut. Der hat irgendwann aufgehört, in Pixity zu chatten. Warum? Weil es auch da ein Ereignis gegeben hat. Genau. Etwas Fundamentales, etwas Schreckliches. Muss doch. Und dieses Ereignis ist es, das Claus zum zweiten Mal den Namen goldenesBlut hören lässt und jetzt steht die Variable auf true.
Nein, ganz langsam. Warum dachte Bentner jetzt daran, wie er nackt auf einem Bett lag? Warum hoffte er, die Person würde sich nicht vor ihn hinstellen und ihn taxieren, in seiner totalen Blöße, seiner lächerlichen Hilflosigkeit?
Du wirst sterben. Und was du hier denkst, ist einerlei. Was du dir vornimmst, wirst du nicht in die Tat umsetzen können. Aber was würdest du dir denn vornehmen, na? Herausfinden, warum goldenesBlut von einem Tag auf den anderen aus Pixity verschwand. Natürlich hast du keine Ahnung, um was für ein Ereignis es sich dabei handelt, ein öffentliches oder
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