Pizza Letale: Palinskis elfter Fall
verschiedenen Lagern unter diesen Umständen rechtzeitig darauf besannen, sich wieder mehr auf das Gemeinsame zu konzentrieren und das Trennende nicht weiterhin auch noch künstlich ins Groteske zu verzerren. Und vor allem der Versuchung zu widerstehen, das schreckliche Geschehen in der einen oder anderen Art und Weise für ihre Interessen zu instrumentalisieren.
Falls dieser Drahtseilakt danebengehen sollte, stand dem Land eine schwere Zerreißprobe bevor. Davon war Palinski überzeugt und davor fürchtete er sich auch ein wenig.
*
Wilmas Schulfreundin Nene war immer schon eine Frau gewesen, die sich vor allem über das Sprechen definierte. Nicht über die Sprache, um das klarzustellen, sondern über das Sprechen. Sie plapperte gern und viel und, das musste ihr der Neid lassen, bei gelegentlichen Glücksfällen auch durchaus gescheit und originell. Und das alles in einer höchst urigen Diktion, einem Schönbrunner-wienerischen mit leichten Anleihen an transdanubische Töne, allgemein bekannt unter der Bezeichnung ›Das Floridsdorfer L‹.
Das Geheimnis, dem Naturereignis Nene gerecht zu werden, war es nun, einerseits genügend Geduld aufzubringen, um einen dieser seltenen intellektuellen Höhepunkte erwarten zu können, und andererseits noch fit genug zu sein, ihn auch als solchen zu erkennen.
Wilma war das in den letzten 30 Jahren vielleicht vier-, nein, fünfmal gelungen.
Für heute hatte Nene, die einem Komitee angehörte, das sich für die Wiederbestellung der bisherigen Regierung starkmachte, zu einer Wahlparty ›Für ein besseres Österreich‹ geladen. Ihre als Grüne bekannte ehemalige Schulkollegin war ihr da als bunter Farbfleck unter so viel Schwarz sehr willkommen. Und Wilma, die ja auch mit einigen der anderen Partygäste bekannt war, hatte zugesagt. Nicht unbedingt freudig, aber lieber ging sie zu Nele als zu den zur Diskussion stehenden Alternativen.
Die Party entwickelte sich programmgemäß nicht aggressiv, sondern durchaus moderat und machte mit der Zeit sogar fast so etwas wie Spaß, fand Wilma. Bis, ja, bis kurz vor 21 Uhr Frau Helma Bärbacher-Hofinger, die Frau des bekannten Großbäckers, erschien. Sie wissen schon, der mit dem Spruch ›Bärbacher bäckt’s und allen schmeckt’s‹.
»Habt ihr schon gehört?« Owohl die übergewichtige Frau ihren Atem vom Steigen in den ersten Stock noch nicht wieder unter Kontrolle hatte, musste die Neuigkeit des Abends unbedingt heraus. »Am Kahlenberg hat man die Leiche von Nora Bender-Nicerec gefunden, sie ist ermordet worden. Die Polizei schließt ein politisches Motiv nicht aus. Der Bundeskanzler und der Vorsitzende der großen Oppositionspartei haben sich mit dem Appell an die Bevölkerung gewendet, Ruhe zu bewahren und sich nicht provozieren zu lassen.« Mit »Es ist wirklich ein Wahnsinn. Der Herbert ist gerade unterwegs in die Kammer zu einer Krisensitzung« beendete sie atemlos ihren spektakulären Auftritt.
Wilma war mit einem Schlag schlecht geworden. Sie stürzte hinaus auf die Toilette, aber der verspürte starke Drang zum Erbrechen hatte sich doch als offenbar rein nervöse Reaktion herausgestellt. So ließ sie einfach das Wasser rinnen, klatschte sich das kalte Nass ins Gesicht, trank einen Schluck und fühlte sich wieder ein wenig besser.
Diese … man sollte ja über Tote nichts Schlechtes sagen, aber in dem Fall ging das nicht anders, ohne zu heucheln. Also diese miese Person, die die Diskussionsveranstaltung gestern Abend mit ihrer schrecklichen Art quasi im Alleingang in die Luft gesprengt hatte, war ermordet worden. Irgendetwas im anarchischen Teil von Wilmas Seele tendierte zu leichtem Frohlocken, aber die zivilisierte Seite lehnte diese Reaktion entrüstet und voller Scham ab.
Wilma erschrak über den undifferenzierten Hass auf das Weib, der jetzt sogar posthum in ihr aufstieg.
Hätte sie dieser Frau etwas antun können, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätte? Ja, sie beschimpfen, vielleicht auch eine Ohrfeige im Affekt. Aber Mord? Niemals. Das ging doch entschieden zu weit. Und dennoch, wie es aussah, hatte jemand diese Frau ermordet. Nur weil sie politisch kranke, unannehmbare Vorstellungen vertreten hatte.
Das war deutlich außerhalb jeglichen Toleranzspielraumes. Dagegen musste man etwas unternehmen. Ihr fielen die beiden Männer in der vorletzten Reihe des Festsaales ein, die ihr wegen ihres eigenartigen Verhaltens gegenüber Bender-Nicerec aufgefallen waren. Es waren aber nicht die Aussagen selbst
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