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Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis

Titel: Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel G. Keohane
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tiefgrünen Schatten quetschte, mit sich zog. Insekten sirrten über ihrem Kopf. Ein scharfes Zwicken am Hals, dann ein weiteres an der Wange. Einige der kleineren Käfer atmete sie ein. Joyce war vollauf damit beschäftigt, sich des Insektenschwarms und heranschnellender Zweige zu erwehren.
    Die Stimme blieb noch immer außer Sichtweite, hielt aber mit ihr Schritt. »Wäre es nicht angenehm, die alte Welt hinter sich zu lassen und hierher zu diesem verschollenen Ort zu kommen? Hmmm? Damit du von der Erinnerung, mit einem solch üblen Mann verheiratet gewesen zu sein, fortlaufen kannst ...?«
    Ich laufe nicht fort!
    »Nein?«
    Ihr nächster Schritt führte sie in eine Welt aus Kerzenlicht, leinenbedeckten Tischen und leiser Musik.
    Diese drastische Veränderung ließ Joyce durch ihren eigenen Schwung stolpern. Sie fiel auf einen dünnen, verschlissenen Teppich, dessen immer wiederkehrendes Lilienmuster sich erheblich von der Wildheit des Dschungels abhob, war es doch zivilisiert und vorsätzlich erschaffen.
    Der nicht enden wollende Chor aus Gezwitscher, Schreien und Summen wurde fortgespült von gedämpftem Stimmengemurmel und leiser Musik. Diese Geräusche mischten sich mit dem Duft nach Meeresfrüchten – Muscheln und Fisch – sowie Fleisch.
    Wie zuvor blickte sich Joyce an diesem Ort um. Blumen in durchsichtigen Vasen wurden auf jedem Tisch von Pärchen oder hier und da auch von einer Familie eingerahmt. Halblaute Gespräche. Niemand bemerkte ihren Sturz in der Mitte des Raumes.
    Draußen war es dunkel. Das Scheinwerferlicht eines Autos schweifte über das große Flachglasfenster hinweg.
    Joyce war dieser Ort genauso wenig vertraut wie der Dschungel, von dem sie gerade gekommen war. Herr, beende das. Bring mich fort von hier, zurück zum Haus. Sogar als Blinde kann ich Gem oder Seyha noch helfen. Aber dies hier ... was mussten die anderen durchleben? Was mussten sie sehen?
    Joyce konnte nicht anders, als ihre Angst abzubauen, ihr ein Ventil zu geben. Sie stöhnte auf, noch immer ohne einen Laut. Niemand wandte sich ihr zu. Niemand bemerkte ihre Anwesenheit. Aber selbst wenn die Leute es getan hätten, wäre es Joyce gleichgültig gewesen.
    Sie war zu beschäftigt, um ihren Ehemann zu beobachten.
    Ray saß jenseits eines Kerzenlichtmeeres aus Tischen. Es war so lange her; eine Ewigkeit war vergangen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Nicht seit ... nicht seit er sie verlassen hatte. Die Stimme kicherte irgendwo über ihr. Ray spießte etwas auf seinem Teller mit einer Gabel auf und biss ein Stück davon ab. Jakobsmuscheln. Er liebte Jakobsmuscheln. Sein größtenteils graues Haar war ein bisschen zottiger, aber sonst war er derselbe Mann, den sie in Erinnerung hatte. Er war damals dreiundfünfzig gewesen und hatte es immer fertiggebracht, in anständiger Form zu bleiben. Selbst in jenen letzten drei Monaten, als er bereits als regionaler Verkaufsleiter für Coynes Security entlassen worden war, brach er niemals mit seinem morgendlichen Ritual, sich für ein kurzes Training zum YMCA aufzumachen. Das war vor sechs Jahren gewesen. Er sah immer noch fabelhaft aus. Allerdings bescherte ihr dieser letzte, reflexartige Gedanke einen Geschmack der Abscheu im Mund.
    Wo befand sich dieser Ort, wo er sich aufhielt?
    Wer war bei ihm?
    Die Frau war klein, zumindest kleiner als Joyce. Kein roter Haarschopf und auch kein überlanger Hals. Vielleicht eine Klientin von einem neuem Job – ein erneutes Kichern aus dem Dachgebälk erklang. Sie versuchte ihren angespannten Nacken zu lockern, das Brennen in ihrem Magen abzuschütteln.
    Joyce erhob sich und bewegte sich wie ein Geist, der zwischen den Tischen entlangschwebte, auf Ray und die Frau zu.
    Ray, rief sie. Ray, wer ist das? Wo sind wir?
    Er sah sie nicht, hörte sie nicht. Er sagte etwas und schmunzelte. Die Frau lachte. Das Geräusch klang viel zu laut. Viel zu kokett.
    Sie ist niemand. Überhaupt niemand. Das alles kann unmöglich geschehen. Ich weiß, dass es nicht so ist , dachte Joyce.
    Sie hatte den Tisch noch nicht erreicht, dennoch vernahm sie Rays Stimme deutlich. »Ernsthaft«, erklärte er. »Ich bin nicht sicher. Irgendwohin nach Südamerika, glaube ich. Zumindest ist es das, was sie vorhat. Ich versuche, das alte Mädchen im Auge zu behalten, obgleich sie es nicht bemerkt.«
    Joyce versuchte, schneller voranzukommen, wie ein Geist, der sie war, näher heranzuschweben. Mit jedem Schritt schienen sich allerdings fünf weitere Tische zwischen Joyce und

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