Plan D
Stimme drohte ihm zu entwischen. Lienecke steuerte durch knöcheltiefes Laub, in den Händen sein imaginäres Lenkrad, umfuhr zu Fuß eine Eiche, erreichte die Polizeiabsperrung, duckte sich unter dem weißen Band durch und ging noch ein paar Schritte bis in die Mulde, in der vor dreißig Stunden der Generatorwagen gestanden hatte.
Die Sängerin jubilierte.
Lienecke blieb stehen, öffnete eine Tür aus Luft, schlug die Lufttür zu. Stiefelte unter Paukenschlägen ein paar Meter den Hügel hinauf, wurde schneller, lief einem unsichtbaren Flüchtenden hinterher, rannte jetzt, holte auf, erwischte den Unsichtbaren, rangelte, klammerte, packte zu, bugsierte ihn zurück zum Tatort. Die Sonne kleckerte helle Flecken auf den Waldboden, das Laub rund um die Absperrung leuchtete in zahllosen Schattierungen von Rot, Gelb, Braun, die zusammen einen bunten und trotzdem monochromen Teppich ergaben. Geigen schwangen sich auf, packten ihr Thema, variierten es, wiederholten sich. Zu kräftigen Bläserakkorden schubste Lienecke seinen eingebildeten Gefangenen nach links, an der Betonstele des Viadukts vorbei, unter der dreckigen Pipelineröhre durch, bis dorthin, wo der Prius gestanden hatte. Die Sängerin setzte wieder ein: Ihre Stimme trauerte in Mollgefilden herum, grämte sich, klagte und klagte an. Die Geigen wimmerten solidarisch, der Wind blies neue Blätter aus den Baumkronen, trieb die Blätter vor sich her, sprenkelte den halbkahlen Waldboden, deckte ihn Fleck für Fleck wieder zu. Lienecke kletterte, schob, zog, die Sängerin fand zu alter Kraft zurück und sträubte sich, sang plötzlich gegen ein unausweichliches Schicksal an, wurde noch lauter, Lienecke wechselte fließend die Rollen, jetzt war er Hoffmann, dem ein Strick um den Hals gelegt wurde, dann war er der Henker, der mit der Schlinge hantierte, dann wieder Hoffmann, das Orchester dröhnte aus sämtlichen Klangkörpern, schwoll bedrohlich an, wölbte sich, über allem flog die Frauenstimme, längst ein Geschrei, Lienecke zog die Schlinge zu und war sein eigenes Opfer, mit der rechten Hand zerrte er, sein Gesicht eine Fratze, die Sängerin kreischte.
Wegener zog die Kopfhörerstöpsel aus den Ohren. Augenblicklich war nur noch Baumrauschen zu hören.
»So weit lässt sich die Bewegung rekonstruieren.« Lienecke kam zurück zum Absperrband. »Aus der Mulde bis da hinten, zurück, den Wagen versetzt, vorgefahren, der Mann hängt, weg.«
»Hübsch machst du das.« Wegener drückte die Stopptaste des Musikspielers und wickelte die beiden Kabelenden so lange um das flache Aluminiumgehäuse, bis er die Stöpsel in dem Knäuel einklemmen konnte.
Lienecke zog den Reißverschluss seiner karierten Jacke auf. »Ich schwitz schon ohne Mord.«
»Du warst auch allein. Die waren zu zweit.«
»Die bestellen den Mann hierher, unter irgendeinem Vorwand. Eine Übergabe, ein Gespräch, was auch immer. Dann erkennt das Opfer die Gefahr und flieht, sie kriegen ihn, kurzes Gerangel, deshalb die Blutergüsse, ein Knopf vom Mantel des Opfers reißt ab und landet in Q4.«
»Wann habt ihr den Knopf gefunden?«
»Gestern. In Laub-Sack Nummer vierundzwanzig.« Lienecke zog ein Blatt Papier aus seiner Jackentasche und faltete eine Skizze auf, von Hand gezeichnet, penibel, maßstabsgetreu: ein enges Raster aus Quadraten, darauf der Waldweg, die leicht gebogene Pipeline, der Prius, Markierungen und Notizen. »Weit ist er nicht gekommen. 8 0 Meter.«
»War ein alter Kerl.«
»Ein alter Kerl, der in der Falle saß.«
»Sie binden ihm den Strick um den Hals«, sagte Wegener, »und kriegen ihn irgendwie dazu, sich auf das Wagendach zu stellen. Wahrscheinlich mit einer Waffe. Und dann geben sie Gas.«
Lieneckes Zeigefinger rutschte über das Quadratgitter in Richtung Mulde.
»Hier haben wir die Blätter mit dem Motoröl gefunden.«
»Können die dahingeweht worden sein?«
»Nein.« Lienecke sah von seiner Skizze auf. »Dann würden nicht mehrere Blätter mit Ölspuren auf einer Stelle landen. Wenn man von der Mulde aus eine Grade in Richtung Pipeline zieht, wo kommen wir raus?«
»Die haben sich Licht gemacht«, sagte Wegener.
»Das denke ich auch.« Lienecke wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. »Der Wagen stand so, dass sie mit dem Fernlicht die Röhre gekriegt haben. Vermutlich könnten wir den Standort bis auf wenige Meter eingrenzen. Bringt uns aber nichts. Kein einziger Abdruck.«
»Und auf dem Weg?«
»Trockenes Laub und betonharter Boden. Laut
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