Plan D
gnadenlose Damals erinnern konnten. In Beziehungen kein Leder schenken, dachte Wegener, Leder überlebt jede Liebe, stattdessen am besten nur Sachen mit überschaubarem Verfallsdatum, Fleisch, Fisch, Butter, Eier, Milch, das sind schöne Überraschungen zu Geburtstagen, Jahrestagen und Hochzeitstagen, Blumen gehen vielleicht auch noch, aber keine, die sich für Trockensträuße eignen. Geschenke aus Stein, Holz, Metall, Glas, Porzellan, Horn und Häuten strikt ablehnen, auf nichts ist so viel Verlass wie auf’s Verlassenwerden und plötzlich wird dieses Zeug zum Folterwerkzeug, das täglich sein Sprüchlein aufsagt: Guck mal, ich bin immer noch da, aber das war’s dann auch.
Lienecke hatte schon fünfzig Meter Vorsprung, zielstrebig stapfte der karierte Rücken mit dem gesenkten Kopf und den hellen Hosenbeinen nach Südosten, verschwand für ein paar Sekunden hinter Baumstämmen, erschien wieder, drehte sich nicht um. Wegener wollte aufholen und konnte nicht. Er watete durch eine raschelnde Laubwolke. Seine Schuhe bewegten sich irgendwo unter dem Gelbbraun wie gleichgeschaltete Maulwürfe, lösten mit jedem Schritt eine Eruption aus, die sich bis an die Oberfläche trug, zwei hart arbeitende Untergrundkämpfer, Mission Stadtforstdurchquerung im Superherbst. Wegener wich moosigen Stümpfen und abgebrochenen Ästen aus, hatte das Gefühl, immer tiefer einzusinken, bald bis zur Hüfte in dieser Knisterschicht zu stecken, langsamer Untergang, kein fester Boden unter den Füßen, nur gelber Raschelteppich und dunkle Stämme, die den Horizont verstellten.
Ein einsamer Vogel meckerte auf seinem Baum.
Wegener drehte sich um. Lieneckes Spurensicherungs-Phobos und die Pipeline waren verschwunden. Immer tiefer führte das Flatterband in die Waldeinsamkeit, in der Lieneckes vierschrötig-karierte Gestalt in der Ferne längst zu einem mystischen Schottenzwerg geworden war, der unbeirrt seiner Bahn folgte. Immer an der weißen Absperrung entlang, von Eiche zu Eiche zu Eiche, die dem blauen Himmel allesamt vorwurfsvoll ihre gerupften Äste hinstreckten, immer noch hielten letzte Blätter an den Zweigen durch, wollten sich nicht aus ihrer Heimathöhe vertreiben lassen, krallten sich stur an die Rinde.
Vor Wegener hob und senkte sich der leuchtende Boden in sanften Wellen, die ihm das Gefühl gaben, über Wasser gehen zu können. Die Situation kam ihm ähnlich unwirklich vor, wie die Besprechung vorhin am Werderschen Markt, seine Unterhaltung mit Steinkühler, der bislang nur ein Name gewesen war, ein Stasigespenst, das man niemals zu sehen bekam, einer der Männer, von denen man sich fragte, was sie taten, wenn sie sich morgens an ihren Schreibtisch setzten, sofern es sie und ihren Schreibtisch überhaupt gab. Diese Gesprächsrunde war nichts anderes als ein Minenfeld gewesen, die Gold-Mine Steinkühler und ihr Kugelkopfkompagnon Münzer hatten alle anderen längst angezapft, verkabelt, programmiert, die ganze Anzugträger-Riege, lauter Stasi-Statisten, die selbst im Dunkeln gelassen wurden, von denen kein Einziger die Wahrheit kannte, die nur eine kleine Info-Vorspeise bekommen hatte, alle wirklich wichtigen Sätze fielen nicht im Weltsaal, sondern hinter gepolsterten Bürotüren, unter vier, höchstens sechs Augen, Ohren, Arschbacken. Und bei Steinkühler lief alles zusammen. Oder: Selbst Steinkühler war nur eine Marionette, die nicht alles wusste. Diese republikweite Geheimnisverwaltung musste für Menschen wie Krenz und Schily unglaublich anstrengend sein. Die hatten ja nur mit Leuten zu tun, die weniger wussten als sie. Die mussten den Überblick behalten, wer was wusste. Und wer wusste, was andere wussten. Und wer wusste, was andere nicht wussten. Ein Informationslabyrinth. Konnte Krenz sicher sein, dass Schily ihn nicht überwachte? Konnte Schily davon ausgehen, dass Steinkühler ihn nicht im Auftrag von Krenz abhörte? Gab es in diesem Land irgendwen, der nicht von jemand anderem beobachtet wurde?
Eins ist sicher, dachte Wegener, von mir wissen sie alles. Mit wem ich Currywurst esse, mit wem ich nicht mehr schlafe, was mein Schwanz und ich unter der Dusche tun. Die Anzahl der Kinobesuche, Reifenwechsel, Klostein-Käufe, Altglasflaschen, Hämorrhoiden. Wegener merkte, dass ihm das mittlerweile egal war. Vermutlich fand man sich irgendwann damit ab, dass man von Menschen gekannt wurde, die man selbst nicht kannte. Dass man im Grunde ein Prominentendasein führte. Und vielleicht war diese ganze Fremdwisserei auch gar
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