Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Plan D

Plan D

Titel: Plan D Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Urban
Vom Netzwerk:
blieben sie stumm hintereinander, verfolgten stur das Flatterband, kamen sich vor wie zwei degenerierte Pferde, die sich nicht trauten, von ihrer lächerlich plastikumzäunten Weide zu fliehen, sahen keine Spuren, keine Beweismittel, keine Chance, hier noch irgendetwas zu erreichen. Dann näherten sie sich dem Forstweg von der anderen Seite, der Phobos tauchte auf, die dreckige Pipelineröhre erschien, sie standen genau da, wo sie losgelaufen waren.
    »Wir drehen uns im Kreis«, sagte Lienecke.
    »Aber immerhin wissen wir, dass wir uns im Kreis drehen.« Wegener lehnte sich an einen Eichenstamm. Er spürte die gleiche Müdigkeitswelle wie gestern und vorgestern. Ein Kübel dickflüssiger Erschöpfung ergoss sich über seinen Kopf, kleisterte ihn zu, klebte schwer an allen Gliedern. Er sah schon den ausgeschlafenen, knusprigen Richard Brendel vor sich. Einen Solariums-Bullen, der morgens joggte und abends durchhielt. Einen Salatfritzen, dessen Frau im KDW ihren Bio-Wahn auslebte und nach drei Tagen ohne Sushi Komplexe bekam. Wegener stellte sich Brendel hellwach vor. Schlaflos und schlafunabhängig. Sonst wurde man nicht Leiter der ständigen Sonderkommission Westberlins, oberster Feuerwehrmann des größten Rattenlochs der Republik. Immerhin, Mut hatte der Kerl. Im Osten ohne reelle Befugnisse eine hochpolitische Ermittlung zu begleiten, das war wildeste Profilierungssucht oder ein Faible für echte Herausforderungen.
    »Wenn du die Stasi wärst«, sagte Wegener.
    Lienecke staunte. »Und?«
    »Und du müsstest unbedingt jemanden loswerden, auf die Schnelle. Was würdest du tun?«
    »Damit ich nicht erwischt werde?«
    »Ja.«
    »Ich würde es so machen, dass niemand ernsthaft glauben kann, ich hätte es getan.«
    »Und wie machst du das?«
    »Indem alles danach aussieht, als ob ich es getan hätte.«
    Wegener nickte. »Genau so würde ich es auch machen.«

8
    H offmanns Professorengehirn war ein grauweißer Klumpen in einer ovalen Metallschale. Feine Furchen zogen sich durch die feste Masse und ergaben in ihrer Unregelmäßigkeit ein regelmäßiges Muster. Wegener musste an die ersten und einzigen Jakobsmuscheln seines Lebens denken, auf einem Neujahrsempfang für Polizeiführungskräfte, ausgerichtet vom Oberbürgermeister anlässlich der erstmaligen Erfüllung der kriminalstatistischen Zielvorgaben. Borgs hatte ihm seine persönliche Einladung vermacht, weil Borgs mit der traditionellen Borgs-Grippe im Bett lag, und gesagt, wenn vom Morddezernat niemand erschiene, fräße die Sitte wieder das ganze Kasseler weg, und das sei, weil aus dem »Molotow« geliefert, von jedem Verdacht der minderen Qualität freigesprochen, also unschuldig. Und unschuldiges Fleisch dürfe sich kein Mann entgehen lassen.
    Die »Molotow«-Mädchen servierten die Jakobsmuscheln in Jakobsmuschelschalenhälften, in Butter gebraten, mit Zitrone, Salz und Pfeffer gewürzt, dazu Sellerie-Mascarpone-Püree, Birnen-Mango-Chutney, krosse Speck-Chips. Wegener hatte zum ersten Mal in seinem Leben über die kulinarischen Dimensionen einer Republikflucht nachgedacht. Dass es auf der Erde essbare Dinge gab, die einem in bestimmten Gebieten der Welt vorenthalten wurden, und dass man in den Vorenthaltungs-Gebieten wusste, dass diese essbaren Dinge in anderen Gebieten der Welt im Überfluss vorhanden ware n – erst diese Konstellation machte die DDR-Bürger zu Tieren. Zu niederen Lebewesen in Käfighaltung, die auf Futter angewiesen waren, das man ihnen durch die Gitterstäbe des eisernen Vorhangs zuwarf. Und Jakobsmuscheln, Sellerie-Mascarpone-Püree, Birnen-Mango-Chutney oder krosse Speckchips gehörten normalerweise nicht zum Speiseplan des sozialistischen Zoos.
    Wegener hatte vor diesem Neujahrsempfang noch nie mit einer Frau angebändelt, um an ihre Muscheln zu kommen. Die junge, dunkle Molotow -Nymphe mit den kugelrunden, hochgeschnürten Brustbällen musste ihm den immensen Appetit angesehen haben, denn sie war bei jeder Runde durch den Rathaussaal ungefragt an seinem Stehtisch erschienen, hatte lächelnd einen Teller abgeliefert, erst die komplette Portion plus Beilagen, dann nur noch Muschelfleisch in Schalen, dann nur noch Muschelfleisch, eine stolze, mästende Kindfrau, die Mandelaugen voller Sex und Spott, der Wettbewerb lief längst, das Duell mit dem eigenen Magen, wie viele Portionen schaffte er noch, und bei der elften, wirklich allerletzten, ihre unvermeidliche Frage: Wo wollen Sie eigentlich hin mit dem ganzen Eiweiß?
    Muschel-Magdalena.

Weitere Kostenlose Bücher