Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Plan D

Plan D

Titel: Plan D Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Urban
Vom Netzwerk:
»Molotow«-Magdalena. Mandelaugen-Magdalena. Mast-Magdalena. Mit einem Blick, der mühelos durch Textilien drang, der den gestopften Kerlkörper abtastete, die Rundungen nachzeichnete, bis in den Darm sah, wo die Muschelproteine gerade verdaut, zersetzt, zur Manneskraft verarbeitet wurden, übrigens, Herr Hauptmann, schon drei Stunden später abrufbar. Dieses Mädchen mochte satte Helden. Wegener merkte, dass er Mädchen mochte, die satte Helden mochten. An diesem Abend war ihm eine Paradiesahnung gekommen: Magdalenas Blicke, ein nie endendes Küchentürenklappen, der Überfluss an Alkohol, Brüsten, Fett, neben ihm hatten die Abteilungsleiter der Dezernate gefressen wie wandelnde Verdauungsorgane, zu Tarnzwecken im vollen Ornat angetreten, das Kasseler der Vorjahre war zartestem Tafelspitz und milder Meerrettichsahnesoße gewichen, die uniformierten Mägen hatten ihre Rindfleischscheiben mit Gabel und Messer in breite Stücke gerissen, statt sie zu zerschneiden, die Stücke mehrfach durch die sämige Soße geschleift, ihre Köpfe tief über das Meissner Bürgermeisterporzellan gebeugt, um auf dem Weg zum Maul möglichst keinen Sahnetropfen zu verlieren, um sich sämtliche Gratiskalorien einzuverleiben, auf Vorrat zu fressen, auf Vorrat zu genießen und so wenig wie möglich anderen zu überlassen. Später, beim gemütlichen Teil , hatte Wegener auf einem der ganz und gar ungemütlichen Stühle gehangen, einen Solotov-Wodka nach dem anderen hinterkippend, mit dem guten Gefühl im Bauch, mehr als ein halbes Jahrhundert Jakobsmuschellosigkeit in knapp zwei Stunden wettgemacht zu haben, mit dem guten Gefühl im Schritt, mehr als vier Jahre Monogamie in naher Zukunft stundenlang wettzumachen, mit dem guten Gefühl im Kopf, vor lauter Wodka nicht an Karolina denken zu müssen, denn beim Neujahrsempfang erschienen alle Polizeimägen ohne Begleitperson , saßen dumpf auf ihren Stühlen, rülpsend, Curaçao Edellikör saufend und den ganzen Abend damit beschäftigt, sich Rindfleischfasern aus dem Gebiss zu pulen. Sie sind die einzigen Männer Berlins, bei denen erst die Moral und dann das Fressen kommt , hatte Oberbürgermeister Modrow verkündet und trägen, unironischen Applaus geerntet. Drei Jahre lag das zurück, und immer noch schmeckte die Erinnerung an die festen Muschelzylinder so nussig, dass ein abgewogenes Professorenhirn sie in Sekundenschnelle wachküssen konnte. Den Zustand eines Staates anhand des Essverhaltens seiner Polizei zu bewerten, das hatte Wegener damals für eine kluge Formel gehalten, und er tat es heute noch.
    »Wunderschön, oder?« Jocicz klang, als rede er von einer Frau.
    Lienecke nickte halbherzig.
    Wegener ließ seinen Blick durch das alte Pumpengebäude wandern. Der Raum hatte vier Meter hohe Ziegelwände und einen gut erhaltenen Kachelboden. Langgezogene schmiedeeiserne Sprossenfenster schnitten das letzte Tageslicht in graue Quadrate. Unter den Fenstern alte Trafokästen, neben den beiden Seziertischen zwei riesige schwarz lackierte Maschinenmonster mit gewaltigen Motorblöcken, aus denen dicke und dünne Rohre wie eiserne Tentakel in Boden und Wände wuchsen. Hinter den Pumpen schimmerten die Metallgehäuse meterlanger Schalttafeln mit unzähligen Reihen von Knöpfen, Lampen, Reglern. Wegener wurde diese Kulisse zum Inneren eines Raumschiffs, zu einer Mischung aus Kommandozentrale, Maschinenraum und Krankenstation des antiken, sozialistischen Sternenkreuzers Walter Ulbricht . Jocicz in seinem weißen Kittel der Bordarzt, auf der blanken Metallplatte eines der Aliens, das in der Schlacht um Köpenick gefallen war: ein magerer, blasser Körper mit violetter Blutergusshalskette und aufgeklapptem Brustkorb, ausgeräumt von Kehlkopf bis Schambein, mit einem zerknautschten Gesicht, das vom blanken Schädel gekrempelt worden war wie eine rutschende, hautfarbene Socke, so dass die Hakennase jetzt an der eigenen freigelegten Luftröhre zu riechen schien.
    »Vor vier Jahren sollte das eine Notlösung sein«, sagte Jocicz und folgte Wegeners Blick durch die Maschinenhalle. »Seitdem bauen sie in Schönhausen rum, und mittlerweile sieht’s da schlimmer aus als vorher. Dieser Schatz hier war 1901 das modernste Pumpenwerk Europas. So was haben wir mal hingekriegt. Jetzt ist es eine Behelfspathologie.«
    »Aber vermutlich die atmosphärisch gelungenste Behelfspathologie der Sozialistischen Union«, sagte Lienecke.
    »Atmosphärisch und olfaktorisch.« Jocicz nickte. »Egal, wie viel Formalin Sie hier

Weitere Kostenlose Bücher