Plan D
Ansatz einer Erklärung. Es gibt eine nicht identifizierte Lebensgefährtin. Dazu einen SPIEGEL-Informanten, an den wir nicht herankommen. Wir haben also keinerlei Zeugen für irgendwas. Wir haben kein Motiv. Wir haben nicht viel, meine Herren.«
»Wir haben noch etwas nicht«, sagte Brendel. »Hoffmanns Stasiakte. Weil wir die nicht einsehen dürfen.«
15
D er Tote baumelte hin und her. Vielleicht hatte ihn jemand angestoßen. Und jetzt ließ der Schwung gar nicht mehr nach, obwohl der Schwunggeber schon längst weg war. Wie im luftleeren Raum pendelte der Körper von rechts nach links, in einer immergleichen Bewegung, die Beine eng zusammen, die Hände an den Hosennähten, ein schaukelndes Hoffmannbrett, aus einem Stück gesägt und in einen hellen Trenchcoat gewickelt. Irgendwer warf mit vollen Händen Laub vom Himmel. Wegener ging durch gelben Blätterregen auf das Geschaukel zu. Als er die Pipeline erreicht hatte, sah er Karolina. Die stand halb hinter einem Eichenstamm und starrte Hoffmann an wie ein Wimbledon-Finale. Ihr Kopf folgte den Pendelbewegungen. Tränen liefen aus den Rehaugen. Wegener nahm sie in den Arm. Karolina war durchgefroren.
Mir ist warm, sagte Karolina.
Du lügst, sagte Wegener.
Und du sagst die Wahrheit, Martin.
Reiß dich zusammen, radikales Verdauen in radikalen Zeiten!, rief Wegener. Dann sah er es: Die Leiche war unter dem Trenchcoat nackt. Ein steifer Penis ragte zwischen den Mantelhälften heraus. Und der Tote hieß natürlich auch nicht Hoffmann. Hoffmann trug schließlich keine Trenchcoats.
Postmortale Erektion, sagte Karolina.
Igitt, sagte Wegener.
Ein rhythmisches Knarzen. Jedes Mal, wenn die Leiche von einer Seite zur anderen schwang. Das Seil schrammte an der Pipelineverkleidung. Von Karolina ging leichter Bonbonduft aus.
Sie haben mir ein Loch in den Kopf gebohrt und geschrotetes Blei reingefüllt, dachte Wegener, genau wie in das geriffelte weiße Ei, das als Gewicht an Mutters alter Küchenlampe hing, eine vermackte, unausgebrütete Porzellangeburt.
Weiter vorn auf dem Waldweg rüttelte der verschwommene Brendel an einer Schranke. Er hatte sie mit beiden Händen gepackt und würgte sie wie eine rot-weiß-gestreifte Schlange, die sich vor lauter Angst tot stellte. Dann schüttelte er den Kopf und ließ das Vieh in Ruhe.
Wegener wachte auf.
Er streckte sich. Der Traum floss so langsam ab wie geschrotetes Blei. Sein Kopf wurde leichter. Die schaukelnde Ständerleiche im Trenchcoat verblasste. Warme Waldluft wehte durch die offene Fahrertür in den Mercedes. Die Sonne schien. Es roch nach Moos.
Brendel ging in die Hocke. Er fischte Schlüssel aus einem kleinen Plastikbeutel und hantierte an etwas herum. Nach einer Minute kam er zurück zum Wagen.
»Abgeschlossen. Und keiner passt.«
Wegener gähnte. Er versuchte, sich in dem warmen Ledersitz aufzurichten. Sein Hemd war am Rücken durchgeschwitzt.
Brendel drehte den Touchscreen des Navodobros zu sich und drückte auf das Feld Alternative Route . Die Silhouette einer Eieruhr erschien. Digitale Sandpixel sickerten aus der oberen in die untere Eieruhrhälfte. Dann drehte sich die Uhr um 18 0 Grad, und die Pixel sickerten zurück.
Wegener versuchte vergeblich, ein zweites Gähnen zu unterdrücken. Brendel griff unter seinen Sitz und hatte jetzt eine silberne Thermoskanne in der Hand, drehte den Deckel ab, goss ihn zur Hälfte mit dampfendem Milchkaffee voll und hielt ihn Wegener hin.
»Wir waren gestern Abend noch im Intershop«, sagte Brendel.
»Kaffee und Bananen?«
»Kaffee und Klopapier. Kayser hat auf dem Thron so sehr gelitten, dass wir beschlossen haben, uns zwölf Rollen zu gönnen.«
»Im EastSide gibt es kein Westklopapier?«
»Im Präsidium nicht. Im EastSide schon.«
»Verstehe. Und wie ist der Laden sonst so? Koksorgien auf dem Steinway?«
»Schön wär’s. Ziemlich viele Russen, ansonsten Durchschnitt.«
Wegener trank. Der Kaffee brühte in ihm weiter, kroch heiß die Speiseröhre hinunter, wurde im Magen zum Glutpunkt. Unmöglich, jetzt etwas über dieses Aroma zu sagen. Man kann sich als Deutscher mit einem Deutschen im Jahr 2011 nicht über den grandiosen Geschmack von echtem Kaffee unterhalten, ohne sich selbst zu erniedrigen, dachte Wegener. Wir sind ein Volk von Zwergen, 14, 5 Millionen Wichte, eine Nation der Schrumpfgermanen, wir sind alle viel zu klein für den Intershop, und wir werden es immer bleiben.
»Das ist aber auch eine ganz schöne Pappe, die sie einem hier anbieten.«
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