Plan D
Diese Jahrhundertkretins von DDR-Politikern propagieren den seligmachenden, ultragerechten Staat und schießen den eigenen Leuten in den Rücken, wenn sie anderer Meinung sind, was ist denn das für ein historischer Scheißhaufen? Wie konnte von denen auch nur eine Sekunde jemand annehmen, dass so was länger als einen geschichtlichen Augenblick funktioniert? Albert wusste schon 1970, was Image ist. Er wusste, dass ein neues Staatsmodell gerade während der ersten Kinderkrankheiten einen möglichst guten Ruf braucht, der seine praktischen Schwächen kaschiert. Allein der Name: Deutsche Demokratische Republik! Länder, die sich demokratisch nennen, sind es nie, ist Ihnen das mal aufgefallen? Unter Marketinggesichtspunkten war die DDR Lichtjahre hinter dem Dritten Reich. Ein verlogener, korrupter Unrechtsstaat, der nicht mal genug Fantasie und Weitblick hatte, um die eigenen Verbrechen zu verschleiern.«
»Also war das Hoffmanns Idee, 1990 die Mauer zu öffnen?«, fragte Wegener ungläubig.
»Natürlich!« Blühdorn rutschte von seinem Schreibtisch und begann, das zeltgroße Hemd anzuziehen. »Und es war ihm von vornherein klar, was das bedeutet: erst mal Massenflucht. Von 16,6 7 Millionen runter auf 14, 3 Millionen, nach den härtesten Berechnungen auf unter 14.«
»Und dann hat Krenz wieder dichtgemacht, weil ihm der Arsch auf Grundeis ging«, sagte Kayser.
Blühdorn nickte, knöpfte sein Hemd zu und schwieg. Er sah plötzlich um Jahre gealtert aus. Der schwarze Stoff hing ihm um den massigen Leib wie ein Batman-Cape. Der Lautsprecher des Sozialismus war plötzlich kein Kraftprotz mehr, sondern ein trauriger, pelziger Sack voll Speck, den Medizinballbauch aufgeblasen von gescheiterten politischen Träumen, die er nicht verdauen konnte. Was Wegener im Hörsaal für unmöglich gehalten hätte: Der Dicke tat ihm irgendwie leid. Der konnte losledern, wenn er hinter einem Rednerpult stand, der konnte den Klassenkämpfer simulieren, andere mitreißen und antreiben, aber er selbst war längst ausgehöhlt und schwach angesichts von so viel Scheitern, ausgestopft mit lauter verwelkten Illusionen.
»Das wäre die historische Chance gewesen«, sagte Blühdorn. Seine Stimme war überraschend fest. »Albert hatte Krenz und seinem Politbüro die Zukunft aufgeschrieben, ein zweihundert Seiten starkes Programm. Der sogenannte Pla n D. Grenzöffnung, sukzessiver Abbau der Staatssicherheit, Verzicht auf politische Restriktionen und Zensur, Einführung eines echten Parlamentarismus. Das ist der Posteritatismus, an dem Albert sein Leben lang gearbeitet hat: die soziale Gerechtigkeit des Kommunismus, gepaart mit der demokratischen, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Qualität westlicher Marktwirtschaften. Klar, wie soll das gehen, wer soll das finanzieren und so weite r – aber genau darin bestand ja Alberts Genie, Prophetie, gepaart mit Strategie, er hätte das hingekriegt, wenn ihm die Geschichte eine Chance gegeben hätte. Lesen Sie den Pla n D, falls die Regierung ihn nicht weggeworfen hat: Investitionen in umweltfreundliche Technologien, das Abwerben sozialistisch gesinnter Spitzenforscher aus dem kapitalistischen Ausland, Entwicklung zum grünen Sozialstaat in vierzig Jahren, weltweit führende Rolle in der Produktion von Elektroantrieben, Wasserstoffantrieben, Windrädern, Solarzellen. Soziale Gerechtigkeit durch Umweltgerechtigkeit, Ökologie plus Ökonomie, diese Vision gibt es nicht erst seit den Grünen, die gibt es seit Hoffmann! Das alles könnte die DDR heute sein. Die Sozialistisch-Ökologische Republik Deutschland.«
»SÖRD«, sagte Kayser. »Klingt nach schwedischem Knäckebrot.«
Wegener räusperte sich. »Haben Sie eine Ahnung, wer Hoffmann umgebracht haben könnte?«
Blühdorn sah von Kayser zu Wegener zu seinen Schuhspitzen. Dann schüttelte er traurig den Fleischkopf.
»Fällt Ihnen ein mögliches Motiv ein? Könnte der Mord mit Hoffmanns Arbeit für Krenz zusammenhängen?«
»Zwanzig Jahre danach? Ich glaube kein Wort von dem, was der SPIEGEL schreibt. Das tut übrigens niemand in Westdeutschland.«
»Die Stasi mordet wieder«, sagte Kayser.
»Ich bitte Sie!« Blühdorn stopfte das Hemd in die Hose. »Ein billiger Agentenfilm. Vielleicht hätte das 1990 so ablaufen können. Das hätte mich auch gewundert, aber vielleicht nicht ganz so maßlos wie heute.«
»Hatte Hoffmann damals Zugang zu vertraulichen Informationen?«
»Sie meinen, er hat damals was mitgekriegt, und dafür hängt man ihn jetzt
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